Neudorf
          Spindelfabrik
                     und die Familie Küttner


Der Industriebau am Ende von Neudorf ist nicht zu übersehen. Ab 1979 wurde er als Nachfolgebau der alten Produktionsstätte in der Mitte des Ortes in Etappen übergeben. Weil der Hersteller von Aggregaten für die Textilmaschinenbranche räumlich aus den Nähten platzte, wurde der Neubau notwendig. Der Betrieb hat eine lange Tradition im Ort. Bis kurz vor der Wende arbeiteten 750 Menschen in dem ehemaligen volkseigenen Betrieb. Die Rede ist von der Spindelfabrik Neudorf GmbH. Sie ist der derzeit drittgrößte Arbeitgeber im Landkreis.

Eine wechselvolle Entwicklung macht neugierig auf die Wurzeln. Diese Fabrik profitierte über die Jahre auch von dem von Zähigkeit, Willenskraft und Intuition geprägten Charakter der Erzgebirger. Die Firmengeschichte spiegelt die wirtschaftlichen Kapriolen Deutschlands in geradezu akribischer Genauigkeit. Das Maß derer, die arbeiteten, aber auch derer, die Verantwortung trugen, zeichnet bis heute ein ortsdominantes Firmenprofil.


Reichlich 100 Jahre „Spinna”.


Die Firmengeschichte begann nicht mit dem Spinnflügel, sondern mit der Herstellung von Posamenten und Schnuren in dem 460m² großen Gebäude des späteren Selfaktorbau's an der Sehma.

1892 ging Ernst Brauer in diese Produktion meldete aber bereits 1895 Konkurs an.

Noch im gleichen Jahr stieg Ernst Seifert ins Unternehmen ein. Er kam aus der 1. Spindelfabrik Deutschlands in Geyer und begann im vorhandenen Gebäude nun selbst eine Spindelproduktion.

Sein Wohnhaus gegenüber der Bäckerei Köhler trug noch bis vor wenigen Jahren die Aufschrift: „Spindelfabrik von Eduard Seifert”. Mit 20 Arbeitern stellte Seifert um 1900 vorwiegend Selfaktorspindeln her. Sie arbeiteten bis zu 64 Stunden wöchentlich. Das Material wurde aus England geliefert. Mit Fuhrwerken mußte es vom Bahnhof-Neudorf herantransportiert werden.

Weil das Geschäft mit der Entwicklung der Seidenindustrie boomte, konnte Seifert 1909 ein neues Kesselhaus mit einer Dampfmaschine, die eine Leistung von 105 kVA brachte, bauen.

Zwei Jahre später errichtete er das dreigeschossige Hauptgebäude. Damit erweiterte er die Spindelproduktion jedoch nur unbedeutend, schaffte sich aber ein zweites wirtschaftliches Standbein, die Posamentenherstellung.

In dieser Zeit begann bereits die Produktion der „Flyerflügel”, die das Profil des Betriebes noch lange beherrschten.

1922 meldeten die beiden Erben Seiferts, die nach seinem Tod die Leitung übernommen hatten, Konkurs an.

Der Sehmaer Hugo Küttner sprang in die Presche. Er gab die Posamentenherstellung wieder auf, setzte, auch wegen seiner bereits vorhandenen Seidenwerke in Sehma und Pirna, voll auf die Spinnflügelproduktion und baute sogar komplette Textilmaschinen.


1925 erweiterte er den Betrieb durch den Bau einer Schmiede, produzierte von nun an nur noch Spindeln und Flügel und erreichte 1926 eine Jahresproduktion von 342.00 Reichsmark.

1929 begann mit dem New Yorker Börsenkrach (Börsencrash) die Weltwirtschaftskrise. Sie führte zu starkem Rückgang der Industrieproduktion, des Welthandels, der Schuldendeflation, zu Bankenkrisen und Zahlungsunfähigkeit vieler Unternehmen.

1932 lag die Jahresproduktion gerade noch bei 130.000 Reichsmark.

Nach der dadurch ausgelösten Firmenkrise übernahm die Tochter Küttners, Marga Treitschke 1933 die Fabrik.

1935 verzeichnete ihre Firma einen Anstieg der Produktion, den die 100 Beschäftigten durch Erfüllung größerer Exportaufträge erwirtschafften.

     Als Alleininhaberin profitierte Marga Treitschke von der nun beginnenden „nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik” und den bald einsetzenden Kriegsvorbereitungen.

1941 beherrschte sie das landesweite Monopol in der Flyerflügelproduktion, obwohl der Export eingestellt wurde.

1944 machte die Herstellung von Zündschrauben 80% der Produktionsumfanges aus.


Nach Kriegsende wurde die Spindelfabrik komplett demontiert.


l945, im November, wurde die Firma durch die sowjetische Militärkommandantur in Gemeineigentum überführt.

Ab l946 fertigten 78 Beschäftigte vorwiegend Holzartikel, reparierten zwar auch Spindeln, waren aber meist mit Reparaturen an landwirtschaftlichen Geräten beschäftigt.

l948, am 1. Juli, kam die endgültige Enteignung und die Gründung des VEB (Volkseigener Betrieb). Ein Jahr vorher lösten die staatlichen Organe nach 14 Jahren die Fichtelbergschwebebahn wieder aus dem Firmeneigentum und übergaben sie der Stadt Oberwiesenthal.


Beginn der sozialistischen Produktionsträgerschafft.


l952, am 22. Juli, begann die Rechtsträgerschafft „VEB Spindelfabrik Neudorf”.

Mit der Entwicklung des Sozialismus im Ostteil des Landes spezialisierte sich der „VEB Spindel -und Spinnflügelfabrik” immer mehr als Zulieferer von Teilen für die Textilindustrie, stellte aber gleichzeitig auch „Schaltgerätekästen”, „Tischschleudern” und „Umformteile” her.

1957 kam ein Teilbetrieb in Crottendorf hinzu, 1961 ein Zweigbetrieb in Sehma. Im Neubau an der Vierenstraße entwickelte sich das soziale Umfeld der Beschäftigten auf ein privilegiertes Niveau. „Betriebsferienplätze”, „großzügige Firmenveranstaltungen” und „sozialistische Arbeitszeitregelungen” ließen die Arbeitsplätze im volkseigenen Betrieb lukrativ werden.

1978 machte sich ein Neubau eines kompletten Betriebes notwendig, der bis 1982 realisiert wurde.

1990, am 1. Mai, findet die Umwandlung des Betriebes in die „Spindelfabrik Neudorf GmbH” statt.

Die Spindelfabrik Neudorf GmbH entwickelte sich in den letzten Jahren wieder zu einem modernen und leistungsfähigen Unternehmen. Mit der Privatisierung am 1. Januar 1993 übernahmen Dr. Ing. Dietmar Nestler, Dr. Rudi Rosenkranz und Christian Hofmann die Geschäftsleitung. Weit über 100 Beschäftigte stellen wieder vorwiegend hochwertige Spindeln her. Außerdem fertigt man Baugruppen für die polygrafische Industrie, für die Textilindustrie und die Medizintechnik. Auch Teile für die Autoindustrie werden produziert.

Heute ist die „Spindelfabrik Neudorf GmbH” weltweit ein am Markt erfolgreich eingeführtes Unternehmen mit hoch qualifizierter Belegschaft und mit langer Erfahrung.

Wie die stetig gestiegenen Umsatzzahlen der vergangenen Jahre zeigen, ist für das Unternehmen eine erfolgreiche Zukunft zu erwarten.




Quellen:
          im Sehmataler Anzeiger Juli 2001 S.7
          Unterlagen pks
          Unterlagen Spindelfabrik Neudorf GmbH



bearbeitet von pks