dr Nadeloswald:
ein Handelsmann aus früherer Zeit |
aus vorliegenden Text, ohne Autor, von mir geschrieben |
I n der Kaiserzeit, so Jahre vor und Jahre nach 1900. In jener Zeit als Wahrsager, Scherenschleifer, Musikanten und allerlei Händler durch die Dörfer zogen. So war es nicht selten, daß es an der Wohnungstür klopfte und ein Händler Waren des täglichen Bedarfs anbot. |
S o besuchte in jener Zeit ein kleiner Mann aus Oberwiesenthal, Oswald Zierold, regelmäßig die Orte Neudorf, Cranzahl, Sehma, eine zeitlang auch Crottendorf. Auf dem Rücken einen Warenkasten, beinahe größer als er selbst, hausierte er täglich fünf bis sechs Häuser ab. In der ersten Jahreshälfte bot er Nadeln, Bleistifte, Knöpfe, Kämme, Schnürsenkel, Kinderarmbänder und vieles mehr an und alles zu billigsten Preisen. Im Herbst und Winter kamen die „Weihrichkerzle“ dazu, die die fraglichsten Formen aufwiesen und einen zweifelhaften Wohlgeruch verbreiteten. |
V iel verkaufte der Nadeloswald jeweils nicht und Auskaufen ließ er sich schon gar nicht. „Anre möng aah wos hom“, bekam man auf solches Ersuchen zur Antwort. Bekannt und beliebt bei jung und alt erhielt der Oswald stets etwas mehr als er verlangte. Oftmals fragte er dann seine Vertrauten, mit denen er beim Bier zusammensaß: „Könne dä die's aah asu bezohln?“ Seine Preise waren im Zeitraum von 30 Jahren immer die gleichen geblieben. |
A uf die Bemerkung hin, dass seine Waren doch zu billig seien, erklärte er: „De Leit hamm's aah net asu; wo sölln se's dä harnamme.“ |
A nspruchslos, grundehrlich, gefällig und eifrig in seinem Geschäft ist er doch nie zu etwas gekommen, auch nicht in seinem Lotteriespiel, das er über 30 Jahre betrieb. Doch einmal soll er bei der böhmischen Lotterie etwas gewonnen haben. Das war als seine Frau nach fünfzehnjähriger Ehe gestorben war. |
Z u seiner zweiten Hochzeit waren aus den Dörfern seiner Handelstätigkeit viele Männer und Frauen meist mit dem Landauer nach Oberwiesenthal gekommen, um am Kirchgang und dem Festmahl im Ratskeller teilzunehmen. |
K einen Pfennig aber durfte der Nadeloswald bezahlen. Durch eine Sammlung, die noch einen Überschuss bescherte, wurde alles beglichen. Er hatte recht, wenn er nach dem Fest noch oft betonte: „A sötte Hochzeit wor fei in Wiesenthol noch net“. |
D er Alltag holte ihn bald wieder ein. Als Grausamkeit empfand er das Gesetz, das ihm den Gebrauch der vertrauten „Ehl“ verbot. Schweren Herzens brachte er an seinen Kasten für alle aber besonders dem Gendarmen sichtbar ein Metermaß an. In der Hand aber trug er seinen Haselnußstecken mit der Einteilung der Elle. Das Metermaß hat er nie gebrauchen lernen. |
I n große Aufregung versetzten ihn Spaßmacher in Oelmanns Gasthof, die ihm in Gegenwart des Gendarmen einredeten, er müsse an seinem Kasten bei Gewitter einen Blitzableiter anbringen. Sie verhalfen ihm auch zu einem Solchen. Bis zum nächsten Hause trug er ihn auch, wo man ihn vom Blitzableiter-Glauben befreite. |
I m Gesetzblatt konnte er so etwas nicht nachprüfen, denn er beherrschte weder lesen noch schreiben. Wurde ihm doch einmal etwas Schriftliches vorgelegt, dann hatte er eben „seine Brill vergassen“. Seinen Bekannten gegenüber bekannte er sich offen als Analphabet. Die „Buchstable“, sagte er, „sei doch su verschieden, jeder annersch; daar aane wie a Masser, der annere wie a Gobel, wieder anre wie a Tobakspfeif; waar soll sich dä dos marken; du Ugelück, du Ugelück“! |
O ft übernachtete der Oswald in Oelmanns Gasthof in Sehma. Seinen Kasten ließ er in dem Haus stehen bis zu dem er mit Hausieren und Erzählen gekommen war. Nie fehlte etwas daraus. Die Mahlzeiten nahm er meist bei den Leuten ein, bei denen er sich gerade zur Essenszeit befand. Mit den Worten: „Ä nu nä, ä nu nä, dos ka ich doch net verlange“, setzte er sich an den Tisch und langte tüchtig mit zu. In Oelmanns Gasthof kostete ihm Übernachtung und Frühstück 20 Pfennig. Dieses Geld zahlte man ihm in ein Sparkassenbuch ein, dass er später etwas hätte. |
A uch sagte man, er liebe Wein, Weib und Gesang. Zwei Lieder waren es, die er auf Bitten von Bekannten sang und dabei taktierte: „Seid willkommen ihr Gesellen mein, was wollt ihr essen und trinken, was wollt ihr für einen Wein?“ und „Gut sein laßt uns alt und jung, gut sein, besser werden.“ Die Melodien sind nicht zu beschreiben, wie sie der Nadeloswald sang. Man muss sie gehört haben, ist überliefert. Und mit dem Wein - es bezog sich wohl auf den Branntwein, den er sich manchmal genehmigte, wobei er selber von sich sagte zu der darauf folgenden Beschwernis, er habe „einen echten obererzgebirgischen Aff'“ gehabt. |
S eine Zuneigung zu den Frauen erscheint uns heute etwas befremdend, ist aber wohl auf seine Vertrautheit zurückzuführen. Jungen Frauen denen durchs lange Reden das Essen angebrannt war, stellte er manchmal scherzhaft die Frage: „Härschte, haste aah schu Dresch kriegt?“ Er erzählte allenthalben, dass er alle Frauen seines Bekannten-und Kundenkreises schon einmal gedrückt habe, bis auf zwei, an die er sich nicht so recht herantraute. Dabei war es nichts anderes als ein leichter Kopfstoß wie bei einem jungen Ziegenböckchen. |
S eit Beginn des Krieges 1939 kam der Nadeloswald nicht mehr. Schon bei seinen letzten Besuchen machte sich die Altersschwäche besonders in Augen und Beinen bemerkbar. Dann erblindete er vollständig und war fast ohne Tastgefühl. Bei Hunger und Kälte verbrachte er seinen Lebensabend in einer menschenunwürdigen Wohnung. |
Als es anlässlich eines Hochwassers hieß, der Nadeloswald sei mit umgekommen, erinnerten sich viele an einen einfachen liebenswerten Menschen. |
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Text verfaßt von pks |