Döhnelmühle in Sehma
von Rüdiger Kreher, Enkel von |
vom „Werden und Vergehen“ Im oberen Ortsteil der Gemeinde Sehma, dort wo die Straße, nachdem sie den Sehmafluß überquert hat, nun sanft ansteigend geradeaus führt, bevor sie sich wieder nach links wendet und steil aus dem Flußtal aufsteigt, steht ein großes langgestrecktes Gebäude mit vielen Fenstern nach allen Seiten und einem breiten Anbau in Richtung auf die Sehma, die sich kaum 70m von der Straße entfernt durch das Tal schlängelt. Dieses ehrwürdige Haus ist die „Döhnelmühle“.
Sie hat eine sehr bewegte Geschichte, welche damit beginnt, daß Wilhelm Moritz Döhnel (unser Urgroßvater) 1867 hier eine Mühle und Bäckerei errichtet hat. Er kaufte nämlich die Brandstätte der an dieser Stelle am 1. Weihnachtsfeiertag 1866 abgebrannten Spinnerei.
Die Gewinne aus der Mühle gingen aber von Jahr zu Jahr mehr zurück. Deshalb hat dann auch sein Sohn, Friedrich Anton Döhnel (unser Großvater), als er nach dem Tode seines Vaters 1898 die Mühle und die Bäckerei übernahm, zunächst die Müllerei an den Nagel gehängt. Die Mühlsteine drehten sich 1899 zum letzten Mal. Später lagen sie noch viele Jahre unbeachtet zwischen zwei großen Bäumen im Hof.
Die Bäckerei war danach noch vier Jahre in Betrieb, und in dieser Zeit hat sich einmal folgendes zugetragen: „Ein Fleischermeister, der bei einem Bauern ein Kalb zum Schlachten abgeholt hatte, band dieses an die ziemlich schwere Holzbank, die vor der Bäckerei neben der Haustür stand. Dann ging er in den Laden, um sich ein paar Brötchen zu kaufen. Währenddessen wurde draußen das Kalb durch einen Knall erschreckt und jagte, die Bank mit Gepolter am Strick hinter sich herziehend, die Straße hinunter. Erst weit unterhalb der Sehmabrücke konnte es aufgehalten werden. Von der Bank war nicht mehr viel übrig“.
Letzteres ist aber sicher nicht der Grund dafür gewesen, daß Anton Döhnel sich nunmehr dazu entschloß, auch die Backerei umzubauen und dafür eine Posamentenfabrik einzurichten. Nein! Er mußte das Backen aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Der dreistöckige Anbau auf der einen Seite des Hauses, an dem der Mühlgraben das Wasser vorbeiführte und die freistehende Scheune hinter dem Haus, waren für das Vorhaben bestens geeignet. Das nötige Bauholz holte er sich aus der „Glänzelmühle“ in Schmalzgrube, aus der er sich ein paar Jahre zuvor auch Ida Amalie Glänzel, die Tochter des Schneidemühlenbesitzers (unsere Großmutter) geholt und 1888 geheiratet hatte.
Sein ältester, zu der Zeit gerade 14jähriger Sohn Fritz, ein aufgeweckter Junge, mußte beim Bau, vor allem aber beim Einrichten der Maschinen helfen. Dessen technisches Interesse legte gleich seine weitere Entwicklung fest. Er blieb als Werkmeister und technischer Leiter im elterlichen Betrieb.
Seine beiden Schwestern Magdalene und Johanne waren über die Abschaffung der Bäckerei keinesfalls böse, denn sie mußten nun nicht mehr wie bisher, täglich früh ganz zeitig, noch bevor sie sich auf den Weg zur Schule machen konnten, einen großen Tragkorb voll frische Brötchen austragen. Nun konnte es auch nicht mehr passieren - wie mir meine Mutter erzählt hat - daß in der Eile bei einem Sturz auf die Straße alle Brötchen aus dem Korb kullerten und heimlich ganz schnell wieder eingesammelt
werden mußten, damit es ja niemand merkt.
Bis zum Beginn des 1. Weltkrieges lief die Posamentenfabrikation recht gut. Aus aller Welt gab es Aufträge, und das Rohmaterial zum Herstellen der Borten, Litzen und Schnüre, die Kunstseide, wurde von der Firma Küttner geliefert, wobei es sicher auch eine Rolle gespielt hat, daß die elf Jahre ältere Schwester Anton Döhnels mit dem Gründer und Inhaber der Firma Friedrich Richard Küttner verheiratet war.
In die von der Mühle her noch leerstehenden Ställe zogen im Kriege zur Verbesserung der Ernährung wieder Kühe, Schweine, Gänse und Hühner ein. Ein Glück war es auch, daß das Feld hinter dem Gemeindewald von Sehma an der Eisenbahnstrecke nach Bärenstein und der Richterstraße nach Königslust noch nicht verkauft worden war. Neben der Fabrikarbeit mußte nun die ganze Familie wieder die Landwirtschaft betreiben. Jetzt mußten auch die jüngeren Geschwister Max, Lotte und Marthel tüchtig mit zupacken. Max, der in Buchholz die Handelsschule besucht hatte, wurde allerdings erst einmal zum Militär eingezogen.
Aber da gab es schon Ersatz durch einen künftigen Schwiegersohn Arno Kreher, der mit seinen ausgelassenen, immer neuen Späßen dafür sorgte, daß allezeit viel gelacht werden konnte. Da wurden Erzgebirgsgeschichten vom Wenzel, Max nachgespielt. Der bei der Erntearbeit von der Sonne verbrannte Oberkörper reizte zu der Frage: " Innu bist dä dus, Henner?" Worauf die Rothaut, wie in der Geschichte antworten mußte: "Bis när ruhig, Gust, iech bie fei ä Wilder!" Nach der Arbeit herrschte in dem stets von Gästen, Freundinnen, und Freunden besuchten Haus viel Frohsinn und Heiterkeit. Die Söhne heirateten und blieben in Sehma, auch die Töchter heirateten, aber sie zogen eine nach der anderen fort außer der ältesten Tochter Magdalene. Als die zweite Tochter Johanne vor ihr heiratete, foppten alle Freunde und Bekannten mit dem
Satz: „Bei eich werd wuhl dos Krumt vorm Hei gemacht“?
Als schließlich alle Kinder aus dem Hause waren, wurde es ziemlich ruhig in der Döhnelmühle, die ihren Namen bei den Dorfbewohnern auch nach dem Umbau in eine Posamentenfabrik behalten hatte.
In der nach dem Kriege entstandenen Inflationszeit ging auch der Absatz von Posamenten stark zurück. Anton Döhnel stand dieser Flaute machtlos gegenüber. Ihm, dem Handwerker, fehlte die unternehmerische, kaufmännische Raffinesse, mit der sein Schwager, durch gewagte Operationen die Kunstseideherstellung immer weiter vergrößern konnte. Die Aufträge an die Firma Döhnel gingen mehr und mehr zurück. Auch sein Schwager verkaufte an ihn die Kunstseide jetzt teurer.
Der Versuch, eine Strumpffabrikation aufzuziehen, endete 1932 mit dem Verkauf der dafür angeschafften Maschinen. Lohnarbeiten für einige alte Geschäftsfreunde in den umliegenden Ortschaften, vor allem in Annaberg und Buchholz hielten den Betrieb, mühsam aufrecht.
Die Stille, die in die Döhnelmühle eingezogen war, wurde zu dieser Zeit jedoch wieder verdrängt. Frohes Kinderlachen und -jauchzen hallten durch das große Anwesen, wenn die Töchter mit ihren Familien in den Sommer- und in den Winterferien zum Besuch der Eltern nach Hause kamen. Da war wieder Jubel und Fröhlichkeit in Haus und Hof und im Garten, durch den noch immer das Wasser der Sehma den Mühlgraben entlang rauschend über das Wasserrad floß und hinter der Fabrik das Grundstück wieder verließ, um ein Stück weiter unten in die Sehma einzumünden.
An den dicken, runden Mühlsteinen im Hof fuhren jetzt die Enkel mit dem großen Leiterwagen vorbei oder probierten auch schon das Fahren auf einem alten Fahrrad.
Es wird für die Döhnel-Großeltern trotz aller betrieblichen Ärgernisse eine sehr schöne Zeit gewesen sein, wenn sie im Kreise der Familie im Garten unter den dichten, hohen Haselbüschen am Mühlgraben zusammensaßen und in dieser Runde die Unterhaltung kaum einmal abriß. Manche Späße aus der Kindheit wurden hier zum besten und an die Enkel weitergegeben.
Da war die Episode von Lotte, der dritten Tochter. Als sie zur Schule ging, hat der Lehrer im Unterricht mal gefragt, was die Kinder zu Hause so alles machen, worauf sie sich meldete und stolz verkündete: „Wir tun uns Schelln neinhaun!“
Auch das Unglück von Marthel, der jüngsten Tochter, die einmal beim Auslecken einer Schüssel den Kopf zu tief hineingesteckt hatte und dann rief: „Nu, namt mir när emol die Schüssel wag!“ hat mehrmals die Runde gemacht.
Im Sommer im Garten, im Winter in der großen Wohnstube mit dem behagliche Wärme ausstrahlenden Kachelofen, nach getaner Arbeit versammelte sich gern die Familienrunde.
Es vergingen die Jahre. Die Enkel wuchsen heran. Die Zeit des Nazismus machte auch vor den Döhnels nicht halt. Ansichten prallten aufeinander, aber die Familie blieb zusammen. Höhepunkt aller Familienfeste war die Feier des 70. Geburtstages Anton Döhnels im Jahre 1935.
Um das Geschäft vor dem Zusammenbruch zu retten, übergab Anton Döhnel die Fabrik an seinen jüngeren Sohn Max, der ja als Kaufmann ausgebildet worden war. Dessen Schwiegereltern steckten ihre Ersparnisse als Kapital zur Weiterführung in das Unternehmen, und bei dem erneuten Aufblühen der Posamentenindustrie im Erzgebirge erholte sich auch das Geschäft wieder. Es fehlte nicht mehr an Aufträgen. Es ging wieder aufwärts.
1938 konnten die Döhnel-Eltern ihr 50jähriges Ehejubiläum, die goldene Hochzeit in voller Rüstigkeit begehen. War schon die silberne Hochzeit ein Jahr vor Ausbruch des ersten Weltkrieges gefeiert worden, so brach ein Jahr nach der goldenen Hochzeit der zweite Weltkrieg aus. Der bereitete auch dem Betrieb und der Posamentenherstellung das Ende.
Zwar liefen die Maschinen noch, aber wer sollte sie alle bedienen, wenn die Männer zum Kriegsdienst eingezogen wurden? Der Inhaber Max Döhnel war im Felde. Sein ältester Sohn Günther kämpfte als Fliegeroffizier an der Atlantikküste. Fritz Döhnel, sein Bruder und dessen Tochter Käthe, die in der „Seidwickelei“ arbeitete, konnten es allein nicht schaffen.
So war am Ende des Krieges die Situation denkbar schlecht. Max Döhnel, dessen Sohn Günther im Kriege gefallen war, und der auch seine Frau verloren hatte, war darüber selbst zusammengebrochen. Da sich auch die gesellschaftlichen Verhältnisse total geändert hatten, fand er den Mut zu einem Neuaufbau des Betriebes nicht mehr. Die Fabrik ging nach seinem Tode 1949 in fremde Hände über und wurde 1958 stillgelegt. Jetzt fließt kein Wasser mehr durch den Mühlgraben. Kein Wasserrad dreht sich mehr. Der Betrieb ist verfallen. Ein Gebäude dient als Lagerhalle. Aus den Fabriksälen wurden Wohnungen und diejenigen, die jetzt darin wohnen, wissen nichts mehr von der alten Döhnelmühle und ihrer Glanzzeit in den ersten drei Jahrzehnten nach der Jahrhundertwende. |
geschrieben vom Enkel |
abgeschrieben von pks |