Ferienparadies Sehma

Kindheitserinnerungen
von Rüdiger Kreher, Cuosin von
Günther und Wolfgang Döhnel


Darauf will ich jetzt die schuldige Antwort geben.

      Erinnerungen an meine Kindheit sind eng mit der Erinnerung an Sehma verbunden. Sehma war in meiner Kindheit ein aufblühender Industrieort im oberen Erzgebirge, 5 km von Annaberg-Buchholz entfernt. Durch den Ort führte die damals einzige Fernverkehrsstraße nach Oberwiesenthal. Im Ort hieß sie Karlsbader Straße, und das Haus Nummer 105 war die frühere Döhnelmühle. Zu meiner Zeit gab es schon lange keinen Mühlenbetrieb mehr, aber der Name war geblieben. Geblieben war auch der Mühlgraben, der von der Sehma mit Wasser versorgt wurde, das ein oberschächtiges Wasserrad antrieb. Damit wurden alle Maschinen in der Posamentenfabrik meines Großvaters angetrieben. Gleichzeitig trieb es die Lichtmaschine, mit der das elektrische Licht im ganzen Hause erzeugt wurde. Der Generator lief allerdings nicht sehr gleichmäßig.

wasserradDas Licht schwankte deshalb immer ein bißchen. Einmal wurde es dunkler und einmal heller. Wenn es zu hell wurde, dann mußte Onkel Fritz, der älteste Sohn meines Großvaters, schleunigst in die „Radstub“, um die Wasserzufuhr zum Wasserrad zu verringern, damit die Lampen nicht durchbrannten. „Tu när fix emol ewing Wasser oschlogn“ sagte manchmal mein Großvater zu seinem Ältesten, wenn der das nicht selbst schon gemerkt hatte.

      Hier in Sehma bei den Großeltern war alles anders als daheim. Langeweile konnte gar nicht aufkommen, denn war es bei den Großeltern zu ruhig geworden, weil Großmama ihr Mittagsschläfchen auf dem Kanapee hielt und Großpapa das Annaberger Tageblatt las, dann ging es in das Kontor oder der Weg führte eine Holztreppe weiter hinauf zu Erika, meiner nur um ein Jahr älteren Cousine, der zweiten Tochter von Onkel Fritz und Tante Zille. Es konnte aber auch sein, daß jemand in der Werkstatt klopfte. Da war es wichtig, erst dort einmal nach dem Rechten zu sehen. Von da aus ging es gewöhnlich auf einer Steintreppe mit eisernem Geländer hinunter zur „Seidwickelstub“, in der Erikas ältere Schwester Käthe arbeitete. Zum Unterhalten war das aber nichts, denn bei dem Maschinenlärm hörte man ja das eigene Wort kaum. So war ich froh, auf den Hof zu kommen. Schräg gegenüber war die Tür zu einem großen Fabriksaal, aus dem drang aber noch mehr Lärm, so daß ich nur selten dort hinein kam. Das war erst viel später im letzten Jahre vor dem Kriege, daß ich abends manchmal am Einfädeln beteiligt war, nachdem mein Vetter Günther mir das gezeigt hatte. Da saßen wir in dem Krach pfeifend auf der Fensterbank und warteten bis eine Maschine ausrückte, d.h. stehen blieb, sobald ein Faden von einem Klöppel gerissen war. Da mußte der entstandene Fitz beseitigt werden und ein ordentlich ablaufender Faden durch alle Ösen mit einer speziell dazu vorhandenen Nadel durchgefädelt und in das Band wieder eingesponnen werden. Dann wurde die Maschine am Haupthebel wieder eingerückt. Unser Spiel bestand nun darin, die betreute Anzahl von Maschinen möglichst immer laufen zu haben. Wenn nun beim Einfädeln einer Maschine noch eine andere ausrückte, dann war das Anlaß zu einem von Großpapa gelernten Fluch: „Himmel Kruzitürken nochemal!“

      Bei schönem Wetter konnten wir zur Gartenlaube laufen, wo häufig mein Vater anzutreffen war, der sich dorthin zurückgezogen hatte, um in seinen vielen Heften und Büchern zu lesen oder auch um auf der Wiese herumzutollen. Die Schaukel vor der Scheune hinter der Fabrik beschäftigte uns eine Zeitlang, bis wir einen Handwagen erwischt hatten und den Weg von der Straße zum Hof hinunterfuhren.

      Eigene Erinnerungen habe ich an eine Reise, die wir mit Tante Lene und Onkel Martin nach Böhmen hinein unternahmen. Im August 1929 hatten wir im Gasthof des Dorfes

rodisfort Rodisfort bei Gießhübel-Sauerbrunn an der Eger im Gasthof „Zur Linde“ bei Krauses eine Sommerfrische. Schon auf der Bahnfahrt wurden wir von einem Tschechen sehr freundlich behandelt. Er brachte uns mein Mäntelchen hinterher, das versehentlich im Abteil hängengeblieben war. Die Gastleute waren auch sehr nett zu uns, aber die langen Schnitten quer durch das runde Brot, so dick, daß meine Mutter gut und gern vier oder fünf daraus geschnitten hätte, waren für mich beeindruckend. Rodisfort war so ein richtiges böhmisches Dorf. Es hatte eine schmale, völlig überdachte und an den Seiten geschlossene Holzbrücke. Sicher war das für den Winter vorteilhaft, aber im Sommer war es ziemlich dunkel darin, und wir mußten im Gänsemarsch laufen, wenn ein Fahrzeug entgegen kam. Die Brücke wurde auch von echten Gänsen durchquert.

      

GänseherdeGroße Gänseherden gab es in jedem böhmischen Dorf. Mir war es stets nicht ganz geheuer, wenn wir und die Gänse auf der Brücke waren, denn wenn so ein Gänserich heftig zischend und schreiend hinter einem flügelschlagend mit weit nach vorn gestrecktem Hals herrannte, da konnte einem kleinen Jungen schon das Herz in die Hose rutschen, hatten doch sogar die Erwachsenen Mühe, sich die Gänse vom Leibe zu halten.

      

Wegen der Schnitten oder der Gänse oder aus Zufall hatte Onkel Martin für uns Quartier in einem alten Schloß, dem Kurhaus Krondorf-Sauerbrunn bei Karlsbad, bei HerrnKrondorfSandolet versorgt. Mir war es jedoch im Schloß und im Schloßpark auf den gepflegten Kieswegen recht langweilig. Um der Langeweile abzuhelfen, erfanden wir das Löwenmaulspiel, bei dem eine Löwenmaulblüte seitlich zusammengedrückt werden mußte, damit das Maul sich öffnete und schloß. Auf einem Spaziergang im Kurort waren wir in einem kleinen Cafe-Restaurant gelandet und hatten uns auf ein Stück Pflaumenkuchen gefreut. Wir verließen das Café aber schleunigst wieder, denn auf den Pflaumenkuchen stürzten sich die Wespen und wollten ihn für sich behalten.

      Der Urlaub war dann jäh zu Ende. Mein Vater hatte in der wasserarmen, nicht sonderlich sauberen Eger gebadet, bekam eine Blutvergiftung und mußte zur Behandlung schnellstens in das Krankenhaus nach Annaberg gebracht werden. Wir fuhren dann auch heim.

      Im Winter 1932 kurz nach dem Jahreswechsel brachte ein Föhn im Gebirge ein so rapides Tauwetter, daß durch den schmelzenden Schnee alle Flüsse gewaltig anschwollen. Auch die Sehma trat über die Uferränder und drang in den Garten und in die Scheune ein. Wir sahen Holzteile von Möbeln und totes Vieh vorübertreiben, und meine Eltern fuhren kurz entschlossen aus Sehma ab nach Hause. Unterwegs sahen wir vom Zug aus die überschwemmte Zschopau und waren froh, daß die Heimfahrt ohne Störungen durchgeführt werden konnte.

      Es vergingen keine Ferien in Sehma, in denen wir nicht auch Ausflüge unternahmen. Mir sind viele Ausflüge zum Bärenstein in Erinnerung, aber auch die Grundmühle in Weipert war ein beliebtes Ausflugsziel.

      Einmal waren wir auch in Karlsbad.

Karlsbad Dort beeindruckte mich der Sprudel, in dem heißes Wasser meterhoch aus der Erde sprudelte. Ein Zwerg auf einem Stück Sprudelstein, schön geschliffen und poliert, hatte es mir angetan, und weil meine Eltern nicht zu erweichen waren, kaufte mir Tante Lene den Zwerg als Andenken.

      Als einzige Schwester meiner Mutter war Tante Lene nach ihrer Hochzeit mit Martin Huß in Sehma geblieben. Sie wohnten im Hause der Schwiegereltern, die in Sehma einen Kolonialwarenladen betrieben. Wenn ich Hußens besuchte, und ihre Wohnung war nur fünf Minuten entfernt, dann lohnte es sich schon, auch der Huß-Mutter im Laden Guten Tag zu sagen, denn diese langte dann bestimmt in eins der Großen Gläser, in denen Bonbons und Malze zum Kaufen reizten, und gab mir eine Handvoll.

      1933 zogen Hußens in eine neue Wohnung in der Siedlung am Hang gegenüber der Döhnelmühle. Die Wohnung war im ersten Stock eines Zweifamilienhauses, das am Ende der Straße lag. Von dem kleinen Wohnzimmer aus konnte man direkt den Fichtelberg sehen.

      Bei Tante Lene war immer alles blitzsauber. Onkel Martin, der als Kaufmann bei der Firma Küttner angestellt war, kam jeden Mittag zum Essen nach Hause. Da mußte dann schnell gegessen werden, denn der Weg dauerte 15 bis 20 Minuten. Etliche Feiertage haben wir auch bei den Hußens verbracht. Da wurde das Essen in der guten Stube serviert, die sonst kaum benutzt wurde. Ein beliebtes Spiel in fröhlicher Runde am Abend war: „ Ich zwicke dich und du lachst nicht ! “ Mit zwei Fingern zwickte reihum einer den anderen in die Wange, wobei der Gezwickte nicht lachen durfte, sonst mußte er einen Pfand geben. Nicht zu lachen fiel schwer, wenn einer nichts ahnend bei jedem Zwicker zwei schwarze Fingerabdrücke von rußgeschwärzten Fingern im Gesicht erhielt.

      

      Einmal waren wir auch in Karlsbad.

LeiterwagenNeben dem großelterlichen Haus war eine abschüssige Zufahrt zum Hof noch von der Mühlenzeit her und vom Heu und Futter Einfahren für das liebe Vieh. Jetzt war das Tor geschlossen und der Boden leicht vergrast. Das hinderte uns Kinder jedoch nicht, mit dem Leiterwagen, die Deichsel zum Lenken zwischen den Beinen, hinunterzurollen.

      An Sonntagen im Sommer nach dem Mittagessen läutete der Eismann mit seiner Glocke. Er zog mit einem zweirädrigen Karren durch das Dorf und erfreute sich überall regen Zuspruches. Aus zwei mit verchromten Deckeln geschlossen gehaltenen Gefäßen, die in Kunsteis extra kalt standen, schabte er Speiseeis in Tüten, je nach Wunsch für 5 oder 10 Pfennige Vanille-, Schokolade-, Himbeereis. Da mußte ich aber zusehen, daß ein Onkel für mich einen Fünfer opferte, denn mein Vater war grundsätzlich gegen das Eisessen, im Sommer erhitzt, würde das kalte Eis nur schaden.

      Zur Taufe Giselas, dem zweiten Töchterchen meiner Patentante Marthel, die jetzt als Frau des Bürgermeisters Kurt Pollmer in Falkenbach wohnte, fuhr die ganze Taufgesellschaft von Sehma aus nach Wolkenstein und pilgerte dann in einem langen Fußmarsch über Schönbrunn immer bergauf zu dem kleinen Dorf Falkenbach, wo sie im Gemeindeamt über den Amtsräumen eine große Wohnung hatten.

      Da Günther und mir die Unterhaltung nicht so zusagte, gingen wir ein bissel ins Freie.

weises Reh.jpg Bald hatten wir die Taufe völlig vergessen und pirschten in unserer guten Kleidung über Wiesen und Felder einem weißen Reh hinterher, das wir aber nicht erreichten. Als wir ziemlich spät zurückkamen, waren alle schon in Sorge, denn wir konnten den geplanten Zug nicht mehr erreichen und mußten auf einen sehr späten Zug warten. Das größte Ereignis, ein weißes Reh gesehen zu haben, wollte uns keiner glauben.

      Sehma war so ganz meine zweite Heimat, denn nicht nur in den großen Ferien waren wir dort, sondern vielfach auch in den Oster-, Pfingst- und Herbstferien. Selbstverständlich verbrachten wir auch die Weihnachtsferien bei den Großeltern in der Döhnelmühle, denn wo auf der WeIt wird das Weihnachtsfest schöner gefeiert als im Erzgebirge mit seinen vielen Weihnachtsbräuchen.

      WaermflascheUnd Platz war genug im Haus. Es gab eine Menge Schlafkammern mit Betten aller Größen und dicken Federbetten. Eine Stunde vor dem Schlafengehen wurden zwei große Wärmflaschen ins Bett geschoben, und da war es nollig warm, wenn man ins Bett gebracht wurde. Die Wärmflaschen wanderten dann in die elterlichen Betten weiter.

      Ein solcher Weihnachts-Heilig-Abend lief wie nach einem festen Programm organisiert ab. Gerade wenn wir mit dem Abendessen fertig waren und keiner mehr Semelmillich essen wollte, klopfte es mit dem Stock an die Tür. Die Erwachsenen drehten ihre Stühle der Tür zu, und wir kleinen saßen ganz verdattert auf der Bank. Unser Großpapa tat uns leid, denn er konnte die Bescherung nie miterleben, weil er zu dieser Zeit aus gerechnet immer in die Bierhalle in das obere Dorf mußte. Wir saßen also auf der Bank. Die Allerkleinsten hatten noch eine Hitsche, damit sie auch mit am Tisch essen konnten.

      Die Krippe, die in einer Ecke, in der sonst der Küchenschrank stand, aufgebaut war und der wir immer unermüdlich zugucken konnten, war im Moment vergessen. Sie lief aber trotzdem, einmal eingeschaltet, weiter. Die drei Weisen aus dem Morgenlande ritten auf ihren Kamelen auf der vorgezeichneten Bahn.doehnel_krippe Sie kamen aus einem Tor heraus und verschwanden dann wieder in einen Tor, um nach einer gewissen Zeit wieder aus dem ersten Tor herauszukommen. Dazwischen bewegten sich zwei Hirten auf dem gleichen Weg. Auf der anderen Seite bewegte sich „die Flucht“, Joseph und Maria auf einem Esel. Höhepunkt war ein Engel, der langsam aus den Wolken herabschwebte, wobei eine Spieldose „Vom Himmel hoch da komm ich her spielte“. Wenn er unten bei der Hirtengruppe auf dem Felde angekommen war, verweilte er, und von der Spieldose erklang die Melodie „Stille Nacht, heilige Nacht“. Dann verschwand der Engel schnell wieder nach oben.

      Im Vordergrund war ein Bergwerk eingebaut, in dem die holzgeschnitzten Bergleute hämmerten und pochten. Oben darauf leierten zwei Bergleute ein Seil auf eine Winde, und in einem Stollengang zog der „Hundsgung“ immer hin und her. Der Hundsgung war die schwächste Stelle der Krippenmechanik. Er hatte scheints das Laufen oftmals satt und stand. Dann mußte unser Großpapa unter den Vorhang, der die ganze Mechanik verdeckte, um ihn das Laufen wieder beizubringen.

      Wenn aber der Ruprecht geklopft hatte, interessierte uns die ganze schöne Krippe und auch die Zwergenecke darin nicht mehr. Wir warteten gespannt auf das, was nun folgte.

      Der Rupprich in einem dicken Pelz, mit einem Schlittengeläut versehen,ruprich die Pelzmütze tief ins Gesicht herein gezogen, obwohl es in der Stube ja schön warm war, band seinen Sack auf und verteilte dann die Geschenke, nicht ohne sich vorher einen Spruch aufsagen zu lassen oder auch mal die Rute zu gebrauchen. War die Bescherung vorbei und der Ruprecht zur Tür hinaus, kam unser Großpapa aus der Bierhalle zurück und ließ sich von uns alles haargenau berichten.

      Die Kleinsten verschwanden dann im Bett, die Größeren und die Erwachsenen gingen noch nebenan in die geheizte große Wohnstube, wo gesungen und erzählt wurde, bis selbst die Muntersten müde waren. Der Christbaum am Fenster in der Ecke, dessen elektrische Kerzenbeleuchtung die ganze Zeit eingeschaltet war, wurde als letztes abgeschaltet.

      Am 1. Feiertag früh hieß es für die Kirchgänger zeitig aufstehen, denn die Christmetten in der Sehmaer Kirche begannen bereits um 5 Uhr. Da wurde auch in vielen Wohnungen die Illumination wieder angestellt. Unser Großvater hatte elektrische Kerzen auf Leisten befestigt, die in Fenstermitte festgemacht waren. Außerdem wurden noch Engel, Bergleute und auch der Türk mit Kerzen aus Inseltlicht in den Dillen angezündet und auf die breiten Fensterbretter gestellt. Auf dem ganzen Weg bis zur Kirche leuchtete es links und rechts hell aus den Fenstern der Häuser an der Straße.

      Nachmittags am 1. und 2. Weihnachtsfeiertag ging es dann zu den Bekannten, die Weihnachtskrippen ansehen und den Christstollen kosten. Das war eine recht schöne Sitte, durch die man viel Neues auf anderen Weihnachtsbergen erleben konnte, denn ihre Besitzer waren sehr erfindungsreich.

      Die ganze Weihnachtsdekoration blieb dann aber noch wochenlang stehen, mindestens bis Hochneujahr, meist aber, bis die Nadeln vom Tannengrün bei jeder Erschütterung herunterfielen. Ich habe den Abbau nie erlebt, denn die Weihnachtsferien waren schon vorher zu Ende.

      Da unser Großpapa gern bastelte und schnitzte, erfüllte er uns Enkeln auch den Wunsch nach einem eigenen Stall für die Krippe daheim und nach einem Bergwerk. Ich bekam dazu noch einen kleinen Motor zum Betreiben für unsere Krippe in Auerswalde. Darin hatte ich auch ganz nach dem Sehmaer Vorbild eine Zwergenecke eingerichtet, für die ich die meisten Zwerge meinem Großvater aus seiner Krippe abbettelte.

      fr-richard-schule
Im Dorf neben der großen 1922 gebauten Friedrich-Richard­Schule stand ein kleines Haus. Darin war ein ebenso kleiner Laden für Textilwaren. Dieses Haus gehörte Günthers Eltern, Onkel Max und Tante Trude. Für uns wichtig war, daß auch Süßwaren im Laden verkauft wurden.

      Als ich 10 Jahre alt war, war ich zu Günthers Konfirmation als Freßgevatter eingeladen, Günther glänzte durch eine Ansprache, in der er den Eltern, Großeltern und Paten seinen Dank aussprach. Ich nahm mir damals vor, das später auch so zu machen, aber mein Vater als geübter Redner, nahm mir das bei meiner Konfirmation ab. Günther mußte damals viel zu Hause helfen, Holz hacken, Beete anlegen, Wege versorgen. Er durfte aber auch in den Laden, Süßigkeiten holen. Wenn ich in Sehma war, übernachtete ich manchmal gleich mit in seinem Zimmer. Auf dem Boden des Hauses waren viele Spielsachen, vor allem eine große Eisenbahn. Auf dem Fußboden waren die Schienen gelegt. Die Lokomotive arbeitete richtig mit Dampf, denn der Kessel war mit Wasser gefüllt, das durch eine Flamme erhitzt wurde, die an einem Docht aus einem Spiritusbehälter brannte. Viele Stunden haben wir hier gespielt.

      Günthers kleiner Bruder Wolfgang hatte, nachdem Onkel Max die Fabrik von Großpapa übernommen hatte, eine umfangreiche Anlage einer elektrischen Eisenbahn der Spur 00 im Wohnzimmer auf einer besonderen Platte aufgebaut.

      Wieder einmal im Sommer. Ich liege mit dem Rücken auf der Decke im Grase der großen Wiese hinter dem Haus. Über mir reckt sich der dicke Stamm einer hohen Esche in den Himmel. Der Baum steht unmittelbar am Rande des Mühlgrabens. Aus dem dringt die eigentümliche Melodie strömenden Wasser an mein Ohr. Nur ein paar Schritte entfernt ist das Fluderhaus, in den sich das große Wasserrad dreht. Ein mächtiges Rauschen von dort übertönt die Melodie noch. Das wird durch das aus den Schaufeln des Wasserrades nach unten in die Radkammer stürzende Wasser erzeugt.

      Während ich mich in der Sonne aale, denke ich über meine Ferienzeit hier bei den Großeltern nach. Bald sind die schönen Tage wieder vorüber, und was haben wir Jungen nicht alles angestellt.

      Zwei Stege führen über den Mühlgraben, einer ohne Geländer kurz vor dem Fluderhaus und einer weiter hinten im Garten am Lusthaus, so heißt die kleine Gartenlaube, welche direkt über dem Mühlgraben steht und durch deren Ritzen zwischen den dicken Bodenbrettern man das Wasser vorbeifließen sehen kann. Der Steg vor dem Lusthaus hat kein Geländer. Hier kann eigentlich niemand ins Wasser fallen, aber so einem tollpatschigen Enkel gelingt das trotzdem einmal. Ins Wasser fallen ist ja nicht schlimm, aber wieder herauskommen ist schwerer. Einmal spielten wir Verstecken, und Wolfgang mußte suchen. Er ging gerade vorsichtig über die nassen Bohlen am Fluderhaus, da rief ich ihn aus dem Eckfenster des Hauses. Er dreht sich schnell um und plumpste rückwärts in den Mühlgraben. Mein Vater, der mit am Fenster stand, riß den Flügel auf und sprang hinaus. Er kam gerade noch rechtzeitig, um den sich mühsam am Balken festhaltenden Wolfgang aus dem Wasser zu ziehen. Mit einem Klaps auf den Hintern reagierte er seinen Schreck ab. Wolfgang weinte und strampelte dabei: „Ich sags meinem Vater, der is Schütze! Der hat e Gewehr!“

      Das Wasser im Mühlgraben reichte uns bis zum Knie, und es machte schon etwas Mühe, sich gegen die Strömung vorwärts zu bewegen. Der Mühlgraben, womit gleichzeitig auch immer das Wasser darin gemeint ist, ist schon unser Element. Was für Spiele lassen sich da erfinden. An einem langen Faden können ganze Kriegsflotten durch das Wasser bewegt werden. Der Bau von Kriegsschiffen gehört zu unseren, Günthers und meiner Lieblingsbeschäftigung. Aus einem Brett oder einer Leiste sägen wir einen schiffsähnlichen Körper, der dann Aufbauten, Schornsteine und Masten erhält, drehbare Holzstückchen sind die Geschütze,sportheim einigkeit um 1925 drei Stifte die Drillingsrohre eines Geschützes, an dünnen Nägeln wird die Reling mit Zwirnsfaden gezogen. Am spitzen Ende, dem Bug, wird die Leine befestigt, und dann können die Schiffe an der Geländerbrücke am Lusthaus auf das Wasser gesetzt werden, wo sie dann von der Strömung erfaßt werden und abtreiben, bis der Faden zu Ende ist. Dann wenden sie ruckartig und werden durch das Aufrollen des Fadens langsam wieder zurückgeholt.

      Ein besonderes Vergnügen dieses Jahr bereitete uns Enkeln das richtige Bootfahren auf dem Mühlgraben in Großmamas sauberer Holzwäschewanne. Großmama kam zu spät. Sie war auch da erst anderer Meinung, denn die schönen blanken Wannen wurden immer auch schmutzig, aber weil alles schon so schön im Gang war und wir so brav spielten, hatte sie ein Einsehen und ließ uns gewähren. Idee und Ausführung des Spieles stammte von meinem vier Jahre älteren Vetter Günther, der ohnehin immer unser Spielmeister war.Beispielbild Diesmal hatte er ein Ende eines Strickes an der Wäschewanne angebunden und das andere an einer Leinenhaspel, die am Geländer befestigt wurde. Bei voll aufgespulter Leine war die Wanne am Lusthaus, und die anderen Enkel Erika, Regina, Gisela, Ursula und Barbara durften vom Ufer aus gegen ein geringes Entgelt aus dem Ferienetat des jeweiligen Familienoberhauptes einzeln das „Boot“ besteigen und nun darin bis zum anderen Steg abwärts treiben und wurden dann zurückgehievt. Wer wollte, konnte auch an der unteren Landungsbrücke aussteigen, wobei mir die Aufgabe zufiel, die Wanne festzuhalten, denn die kippte sehr leicht um, wenn man nicht aufpaßte. Mit den Einnahmen aus den Bootsfahrten wurde Wolfgang von seinem Bruder Günther über die Straße zu Epperleins in den Laden geschickt, eine Tüte Kakaomalze zu kaufen. An denen hatten wir dann eine Weile zu lutschen.

      Da wir bei diesen Spielen das Badezeug anhatten, plantschten wir auch tüchtig im Wasser. An der Luft war es dann aber, wenn wir herauskamen, trotz des Sonnenscheins kühl. Das war aber gar nicht schlimm, denn unser Großvater hatte uns von dem alten Planwagen die Plane herausgesucht, und wir hatten mit den Bögen und der Planen ein geräumiges Zelt errichtet, in dem es wiederum mächtig warm war.

      katzeSpäter einmal, als wir selbst Zeltbahnen für die Fahrten beim Jungvolk hatten, bauten wir auf der Wiese unter dem Apfelbaum aus drei oder vier Zeltbahnen mit dazugehörigen Aalen und Heringen ein regelrechtes Zelt, brachten aus der Scheune Stroh hinein und beschlossen, darin zu übernachten. Wir, Günther, Wolfgang und ich, suchten, mit vielen guten Ratschlägen von Seiten unserer lieben Tanten versehen, beim Dunkelwerden das Zelt auf, hielten am Anfang auch noch Wache und schliefen dann aber fast friedlich bis zum Morgen. Nur einmal wachten wir auf, als Peter, die Katze von Onkel Fritz, um das Zelt schlich, miaute und herein wollte.

      Die Flußschiffahrt hat ihre besonderen Gesetze, denn das Wasser strömt ohne Unterbrechung in die gleiche Richtung. Ein Hafen braucht dagegen ruhiges, stillstehendes Wasser. Wollten wir unseren Kriegsschiffen mal eine Ruhepause gönnen, mußten sie in einem Hafen anlegen können. Das Bauen eines Hafens war uns nicht unmöglich. Vom Mühlgraben aus führte nämlich eine Rohrleitung zu einem Springbrunnen und dann noch ein Stück weiter zu einem viereckigen Becken, etwa 2 x 2 m groß, das früher für die Gänse zum Schwimmen gefüllt wurde. Zu unserer Zeit aber war es leer. Also stopften wir den Abfluß zu und ließen Wasser einlaufen, und bald schwammen unsere Kreuzer dort. In der Nähe stand das Schaukelgestell, aber Schaukeln war mehr etwas für die Mädchen. Neben dem Becken war eine kleine Scheune, deren Dachboden voll mit Strohgarben angefüllt war. Unten standen Wagen und Geräte für die Feldarbeit. Das Tor war meist verschlossen, aber oben die Luke ließ sich mit einem Trick öffnen. Günther hatte an dem darüber befindlichen Querbalken einen Strick befestigt, an dem wir hinaufklettern mußten, wenn wir in das Stroh wollten. An manchen Regentagen haben wir da oben gesessen und Kakaomalze gelutscht. Durch das Stroh hatte Günther Gänge angelegt, durch die wir wie die Mäuse kriechen mußten, um an das einzige Fensterchen in der Scheune zu gelangen und etwas frische Luft zu schnappen.

      Als wir schon älter waren, rückte das Fahrrad in den Vordergrund. Ich fuhr von Auerswalde mit dem Rad nach Sehma. Der Weg führte über Ebersdorf-Hilbersdorf, auf der Clausstraße zur Zschopauer Straße bis zum Goldenen Hahn, dann ging es nach rechts ab über Dittersdorf, Weißbach, durch das lange Herold talaufwärts nach Ehrenfriedersdorf und Schönfeld, den Wiesaer Berg hinunter bis zum Ferngaswerk Annaberg, wieder nach rechts durch das Sehmatal am Frohnauer Hammer vorbei durch die Talstraße in Buchholz und in Cunersdorf an der Katzenmühle vorbei nach Sehma. In 3 1/2 Stunden war diese Gebirgsstrecke geschafft.

      In Sehma unternahmen wir mit den Rädern Ausflüge in die Umgebung nach Cranzahl, Neudorf, Markersbach, Raschau usw.,Markersbach aber auch Botenfahrten zu anderen Firmen oder Kunden, die Ware geliefert bekamen. Das war sonst Sache des Botenmannes, der mit seinem Ziehhund vor dem Wagen für einen Botenlohn die Auslieferung besorgte. Ferienzeiten waren aber dürre Zeiten für den Botenmann, denn den Botenlohn für die von uns beförderten Pakete kassierten selbstverständlich wir.

      Bei sehr warmen Wetter kühlten wir uns nun nicht mehr im Mühlgraben ab, sondern fuhren mit den Rädern in das Sehmaer Gemeindebad oder in das neue Freibad nach Buchholz, einmal waren wir sogar in dem großen Strandbad Filzteich. Da fuhren auch Günthers Freunde mit, und ich durfte auch dabei sein.

      Im Winter wurden die Skiausflüge wagehalsiger. Wir kamen bis zum Steinbruch am Bärenstein und sausten die Schneisen hinunter. Auf den Waldwegen ging es in Schußfahrt wieder heimwärts.

      Einmal sah ich, als ich hinter Günther herfuhr, im Vorüberfahren am Wege nur noch ein Brettel liegen. Von Günther keine Spur. Ich bremste, so gut ich konnte und kehrte um. Da schüttelte sich Günther gerade den Schnee von den Skihosen. Er hatte die Kurve nicht erwischt und war gegen einen Baum geprallt, weil dieser nicht nachgab. Das hatte er nicht vertragen. Mit brummenden Schädel, aber heilen Bretteln kehrten wir langsam nach Sehma zurück.

      Die letzte gemeinsame Tour, bevor Günther zum Arbeitsdienst eingezogen wurde, unternahmen wir mit einem kurzen Schlitten, einer sogenannten „Käsehitsche“, eine Bierfahrt nach Böhmisch-Hammer.kaesehitsche Wir hatten einen großen Korb auf dem Schlitten für die Bierflaschen, die wir in der Brauerei holen wollten. Alle tranken nämlich gern das vorzügliche „Saazer Dunkel“. Onkel Max hatte uns eine Belohnung versprochen, wenn wir das Bier holen würden. Wir waren selbstverständlich gleich einverstanden. Am zeitigen Nachmittag stapften wir mit dem Schlitten los. An den Grenzern und am Zoll konnten wir nicht vorbei, deshalb sind wir von Bärenstein aus auf der Reichsseite in Richtung Oberwiesenthal gegangen und dann im Dustern über den Grenzbach schnell auf die andere Seite. In der kleinen Brauerei erhielten wir das gewünschte Bier, packten die Flaschen in den Korb und traten nun bereits in Dunkeln mit dem schweren Schlitten den Rückweg an. Wir gelangten unangefochten über die Grenze wieder zurück und kamen uns vor wie ein Paar echte Pascher. Ohne zu verweilen, durchquerten wir den Ort Bärenstein und liefen auf der Straße bis nach Königslust. Dort mußten wir nach Sehma abbiegen, und hier konnten wir es auch nicht länger erwarten. Wir nahmen jeder eine Flasche gepaschtes Bier aus dem Korb und tranken dieses hochprozentige eiskalte Saazer Dunkel. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Todmüde erreichten wir gerade noch die Döhnelmühle, wo unsere Eltern, Tanten und Onkel über unser langes ausbleiben schon in Sorge geraten waren. Das Bier hat dann allen die Sorgen genommen.

      Noch in den ersten Kriegsjahren war ich stets dabei, wenn Onkel Max fragte: „Wie wärs, wollen wir mal in den Ratskeller nach Weipert gehen?“ Meine Antwort war sofort da, und dann zogen wir los. Der Fußmarsch sorgte für den nötigen Durst, und so tranken wir im Weiperter Ratskeller mindestens 2 halbe Liter Pilsner, wozu die dicken Käseschnitten schmeckten und für weiteren Durst sorgten. Manchmal mußten wir deshalb mit dem Zug nach Sehma zurückfahren.

Kindheitserinnerungen
sind auch ein Abbild
der Zeitgeschichte.

abgeschrieben von pks