Der Spielmannsteig

Von Schuldirektor i. R.
Friedrich Mahn


   Es war im Sommer des Jahres 1912. Da wanderte eine Klasse der Sehmaer Volksschule unter Führung ihres Lehrers Friedrich Mahn auf dem Fürstenwege nach der Siebensäure zu.
   Die Schönheiten unserer lieben Gebirgsheimat wollte das farbenfrohe Völkchen erkunden. „Blaue Luft, Blumenduft und der Winde Weh'n, immerzu, ohne Ruh', über Tal und Höh'n!“ So klang es aus frischen Kinderkehlen, und mit rüstigem Schritte ging es immer weiter in den sonnigen Sommer hinein.

   Da, auf einmal war es, als wollte der fröhliche Gesang nicht mehr recht gelingen, und schließlich verstummte er ganz. Fragend sahen Lehrer und Kinder einander an. Was war geschehen? Ein am Wege stehender Stein hatte die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich gelenkt, und besonders die Inschrift „Raubmord 1846“ hatte die Gemüter verwirrt.


   Der Lehrer, der damals selbst Neuling in der Heimat war, konnte leider keinen Aufschluß geben, und er hätte doch selbst gar zu gern gewußt, welche Bewandtnis es mit diesem merkwürdigen Steine hatte. Da kam denn er wie gerufen, der alte, weißbärtige Erzgebirger, der soeben aus dem Walde drüben heraustrat und auf die Klasse zu schritt.

   Ihn hatte der herrliche Sommertag auch ins Freie gelockt, und eben wollt er wieder heimwärts schlendern. Freundlich wandte sich der Lehrer an den Alten: „Ich bin mit meiner Klasse heute zum ersten Male hier an dieser Stelle. Da sehen wir dieses seltsame „Denkmal“, das von einem grausigen Ereignisse meldet. Ich nehme an, daß Sie ein Einheimischer sind, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie uns etwas von diesem Steine berichten würden".

   "Gern will ich es tun!" antwortete sogleich der Alte, der sich sichtliche Mühe gab, zu den Schulkindern nicht in erzgebirgischer Mundart, sondern in hochdeutscher Sprache zu reden. Dabei fuhr er sich mit der Hand ein paarmal über die Stirn und blickte sinnend auf den Boden, als wollte er sich für seine Erzählung sammeln. Dann fuhr er etwa so fort:

   "Ja, ich weiß noch davon, und wie oft habe ich’s von meinen Eltern erzählen hören! Ich war damals 8 Jahre alt, als sich das zutrug wovon dieser Stein kündet. 1846 war' s, am 17. Oktober, dem Sonnabend vor dem Cranzahler Kirchweihfeste, abends gehen 8 Uhr, da wurde hier an dieser Stelle ein Puppenspieler beraubt und erschlagen. Christian Friedrich Leberecht Zeuner hieß der Unglückliche. Im 60. Lebensjahre stand er, und seinen Wohnsitz hatte er in Chemnitz. Im Crottendorfer Erbgerichte hatte er damals gerade sein Puppentheater aufgebaut. Mehrere Wochen lang spielte er da, unterstützt von seiner Frau und seinem erwachsenen Sohne. An jenem Unglückstage war er zu geschäftlichen Besorgungen nach Weipert gegangen. Auf dem Heimwege nach Crottendorf kehrte er in der Cranzahler „Ottschenke“ ein, um ein wenig auszuruhen und sich durch Speise und Trank zu stärken.

   Dort in dieser Schenke geschah es nun, daß sich ein Fremder zu ihm an den Tisch setzte. Uhlig soll er geheißen haben, und er war erst wenige Wochen vor der Tat aus Schlesien nach Crottendorf zugereist. Und wie er aussah! Schwarze Augen und schwarze Locken! Wie ein Vagabund erschien er denen, die ihn kannten. Mit Gelegenheitsarbeit fristete er notdürftig sein Leben. Mit diesem wild aussehenden Schlesier sitzt denn der Spielmann in der Ottschenke am Tische. Aufmerksam, fast lauernd verfolgt der Fremde alle Bewegungen und alle Blicke des Ahnungslosen. Und als der seine kleine Zeche bezahlt, glaubt der Vagabund viele blinkende Münzen in seinem Beutel zu sehen.
   Ja, das ist' wonach sein Sehnen geht! Das raubt ihm alle Besinnung. Böse Gedanken steigen in ihm auf. Draußen im Walde will er ihn auflauern. Aus den Gesprächen, die sie miteinander geführt haben, weiß er ja,welchen Weg der Spielmann einschlagen will. Bevor dieser aufbricht, ist der Bösewicht schon fort.

   Nichts Schlimmes ahnend, zieht der Spielmann ruhig seine Straße. Mit Gedanken des Friedens schreitet er zur Höhe. Er ist bis hierher gekommen! Da raschelt es im Dickicht! Äste knacken! Eine unheimliche Gestalt huscht gespenstisch durch das Dunkel. Schwere Stockhiebe sausen nieder! Jammerrufe gellen durch die Nacht! Und am Wegrande liegt er, der sterbende Spielmann! Er hat sein Leben noch nicht ganz ausgehaucht, da hat der Mörder schon den dünnen Beutel in zitternden Händen. Doch noch nicht genug damit! Hastig reißt er seinem Opfer die funkelnagelneuen Stiefel von den Füßen, zieht sie kaltherzig an und stellt die alten, abgelegten abseits in einen Ahornstrauch.
   Nun aber wird es ihm unheimlich an diesem Orte des Grauens. Fort rast er, fort auf Crottendorf zu. Er irrt im Walde umher. Und wieder eilt er zurück, einem dunklen, unerklärlichen Zwange folgend, hin zu seinem unglücklichen Opfer. Im Mondlicht sieht er die starren, bleichen Züge des toten Spielmanns. Die klagen ihn an und flößen ihm Angst und Entsetzen ein. Fort treibt's ihn auf’s neue, hinein nach Cranzahl. Im matten Scheine einer Lampe, die durch ein Fenster leuchtet, sieht er die verräterischen Blut an Händen und seinen Kleidern. Er erschrickt.

   Noch aber breitet die Nacht ihre Schleier über das furchtbare Verbrechen. Erst der nächste Morgen bringt es ans Licht der Sonne. Schaudernd sieht die Zöpfelfrau von Crottendorf, die ihre Waren aus der Cranzahler Beyer-Mühle holt, den Leichnam am Wegrande liegen. Blaß vor Entsetzen und atemlos bringt sie die Kunde nach Cranzahl. Und in wenigen Stunden weiß es die ganze Umgegend, was Furchtbares geschehen ist.

   Unterdessen hat sich der Mörder, gehetzt von nagender Reue, selbst der Behörde gestellt.

   Welch eine Aufregung in der ganzen Gegend! Welch ein Kirchensonntag in Cranzahl!"

   Bis hierher hatten die Augen der Kinder immer an den Lippen des Erzählers gehangen. Selbst ganz ergriffen von dem, was er berichtet hatte, mußte er eine Pause eintreten lassen. Aber die Kinder ließen keine Ruhe. Sie wollten mehr hören. Darum nahm der Alte noch einmal das Wort. „Bis zum Begräbnistage kam Cranzahl und das ganze obere Erzgebirge nicht zur Ruhe. Das war noch ein aufregender Tag, der Mittwoch nach der bösen Tat! Alles war auf den Beinen, alles strömte nach Neudorf.

   Weil dieser Wald hier zum Neudorfer Staatsforst gehört, darum wurde die Leiche des unglücklichen Spielmanns dort dem Schoße der Erde übergeben. War das ein Leichenzug! Alle waren tief ergriffen. Viele sah man weinen. Auch der Himmel nahm teil an der Trauer. Hell und klar schien schien zwar die Sonne. Und doch, aus wolkenlosem Himmel fielen dann und wann Tropfen, so Ernst und würdig schritten sie dahin, die Schützen aus Crottendorf. Sie waren gekommen, um dem Toten, der in seiner Jugend ein braver ' Soldat gewesen war, die letzte Ehre zu erweisen. Feierlich klang ihre Musik über das Dorf dahin, wie sie mit ihren Instrumenten auch den Chorgesang der Schulkinder begleiteten.

   Und am Grabe sprach der Neudorfer Pfarrer Immanuel Petzoldt. Er gab dem Ausdruck, was in dieser Stunde alle so tief bewegte. Was die Herzen der Teilnehmer aber am tiefsten aufwühlte, das war die Anwesenheit des Mörders.
   Nach der Sitte der damaligen Zeit mußte er mit im Trauerzuge schreiten. Es fehlte nicht viel, so hätten die aufgeregten Menschen eine Flut von Schmähungen über ihn ausgegossen" sich wohl gar an ihm vergriffen. Hinter Zuchthausmauern mußte er seine Freveltat büßen. Dort ist er auch gestorben.

   Lange noch zitterte in allen das furchtbare Ereignis nach, und lange wird dieser Stein hier von dem Verbrechen an dem Spielmanne zeugen. Noch in späten Tagen wird dieser Weg hier, der von Crottendorf nach Cranzahl führt, der „Spielmannssteig“ genannt werden."

   Mit dem Ausdrucke des Dankes für seinen ausführlichen Bericht verabschiedeten sich Lehrer und Kinder von dem alten freundlichen Manne. Ein Erlebnis war dieser Tag für die wandernde Klasse. Aber keine rechte Freude wollte an diesem Tage mehr aufkommen, und auch der nächste Schultag stand ganz unter dem Eindrucke der Erzählung des Alten und unter dem Worte

           „Der Übel größtes ist die Schuld“

pks   


Sitemap                  Home