„Meine Lebenserinnerungen“


von Friedrich Richard Küttner


Herr, Du hast mich gut geführt,
Du hast großes an mir getan!
Dir sei Preis und Dank.


Dresden, 6.2.1925

Mein Lieber Oscar! Anbei übersende ich Dir meine im Laufe des vergangenen Jahres niedergeschriebenen Lebenserinnerungen, soweit mir solche noch im Gedächtnis geblieben sind.
In letzter Zeit hat überhaupt mein Erinnerungsvermögen merklich nachgelassen und sind mir von meiner 77-jährigen Lebenszeit so manche Geschehnisse nicht mehr gegenwärtig.

Ich hoffe Dich nebst den Deinen gesund und wohl und Grüße freundlichst

Richard Küttner


Wie mir einst unsere "alte Hannel" erzählte, die seit 1845 bei meinen Eltern als Haus- und Kindermädchen in Stellung war und 4 Generationen unserer Familie bis zu ihrem Ableben im Jahre 1913 treu gedient hat, bin ich am 31. Dezember 1847 abends nach Schluß des Sylvestergottesdienstes in Sehma i./Erzgebirge, als 4. Kind meiner Eltern zur Welt gekommen. Mein Vater Friedrich Wilhelm Küttner besaß daselbst eine kleine Klöppelzwirnfabrik mit Bleicherei. Meine Mutter Ernestine Wilhelmine Küttner war eine geborene Georgi aus Bärenstein.


Ich bin nach der Erzählung der "Hannel" ein sehr schwächliches Kind gewesen, so daß ich bereits am 2. Januar 1848 die Nottaufe erhielt.

Onkel Postverwalther Wilh. Maneck in Schlettau, Tante Mathilde Leonhardt in Bärenstein und Gutsbesitzer August Sacher in Cranzahl, zu denen sie die Gevatterbriefe getragen und dabei sehr gute Trinkgelder erhalten habe, waren die Taufzeugen.
In meiner Kindheit bin ich oft krank gewesen, und ich erinnere mich noch sehr gut, infolge einer sehr schweren Gehirnhautentzündung längere Zeit zu Bett gelegen zu haben. Im übrigen soll ich aber ein lebhafter, teilweise unartiger Junge gewesen und deshalb mit meinem Großvater, der ein sehr eigensinniger und strenger Mann war, öfter in Konflikt geraten sein, so daß er sich bei Gelegenheit eines dummen Jungenstreichs, den ich ihm gespielt hatte, beim überspringen des Mühlgrabens, die rechte Achsel ausrenkte. Da ich kein "Sitzefleisch" hatte, schickte mich mein Vater schon mit 5 Jahren in die Dorfschule, die ich bis zum 11. Jahre besuchte; nebenbei bekam ich noch Privatunterricht bei dem Ortsgeistlichen, Herrn Pastor Gareis.

Von Ostern 1859 an besuchte ich bis zu meiner in Annaberg durch Superindendent Dr. Franz, Oster 1862 vollzogene Konfirmation, die Annaberger Realschule. Auf Wunsch meines Vaters kehrte ich dann wieder in das elterliche Haus zurück, um mich in seinem Geschäft, das er mir zugedacht hatte, praktisch einzurichten.

Vorerst sollte ich eigentlich Lehrer werden, da dieser Beruf in der Küttnerschen Familie gewissermaßen zur Tradition gehörte und mit abraten unseres damaligen Kantors Zimmermann, mit dem mein Vater eng befreundet war, "mich lieber Steinklopfer als Schulmeister werden zu lassen" bestimmte meinen Vater hiervon abzuraten. Der Umstand, daß mein Vater in dieser Zeit die oberhalb unserer Fabrik gelegene "Mittlere" sogenannte "Glumann Mühle" kaufte, zu welcher ein sehr starkes Stollenwasser gehörte, das für unsere Bleicherei von größter Wichtigkeit war, hatte in dieser Zeit meinen Vater bestimmt, mir die Zwirnerei und Bleicherei und meinem älteren Bruder Rudolf die Mühle zu überlassen.

Auf Wunsch meines Vaters trat ich der in Sehma seit 1720 bestehenden Kantoreigemeinschaft bei, deren Mitglied er selbst nach seiner Rückkehr aus Rußland war und der auch mein Großvater angehörte. Ich habe in dieser Gesellschaft bis zu meiner Übersiedelung nach Dresden im Jahre 1907 viele angenehme Stunden verlebt und gern gedenke ich noch der gesanglichen Unterhaltungen und des fast alljährlich stattgefundenen Kantoreischmauses. Derselbe wurde in herkömmlicher Weise durch Kirchgang, Gottesdienst mit Kirchenmusik eingeleitet. Daraufhin folgte ein sogenanntes Schweineschlachten, das unter Leitung von jährlich neugewählten 2 "Anschaffern" regelmäßig in der Schule und später im Gasthof stattfand.

Als nach dem 1866er Kriege in Sachsen die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde, meldete ich mich zum einjährig freiwilligen Dienst bei der Annaberger Amtshauptmannschaft. Zuvor mußte ich mich in Zwickau einer körperlichen Untersuchung unterziehen und nachdem ich für tauglich befunden, noch die erforderliche Prüfung dort ablegen. Nachdem ich diese bestanden hatte, bekam ich das Qualifikationszeugnis für den "einjährig freiwilligen Dienst" und trat daraufhin am 1. Oktober 1867 bei dem 1. königl. sächsischen Leibgrenadier Regiment Nr. 100, bei dem bereits mein Vetter Maneck diente, ein.

Bis Ende März 1868 dauerte die Ausbildung unserer 72 Mann starken Compagnie unter Leitung des beim Regiment wegen seiner Strenge bekannten Oberleutnants Grabnitz. Am 1. April wurde unsere Compagnie aufgelöst und je 5 Mann den 12 Compagnien des Regiments zugeteilt. Ich wurde der 11. Compagnie überwiesen, deren Hauptmann Döring übrigens kein besonderer Freund der fünfjährigen war und solche mehr seinem Feldwebel Vettermann überließ. Dieser, ein alter liebenswürdiger zugänglicher Herr, hat mich oft vom Nachmittagsdienst, um den sich der Hauptmann überhaupt nicht kümmerte, gegen Aufmerksamkeiten in Wein und Zigarren dispensiert. In Zivilkleidung habe ich dann mit Freunden und Bekannten Ausflüge in die nähere und weitere Umgebung Dresdens gemacht.

Ich kann wohl sagen, daß dieses Jahr die schönste Zeit meiner Jugend gewesen ist.

Nach beendeter Dienstzeit, am 30. September 1868 kam ich dann wieder nach Hause, um meinem Vater im Geschäft weiter zu unterstützen. Nach kurzer Zeit trat ich dann in Sehma mit Cunersdorf gegründeten Militärverein bei und bildete darin mit mehreren sangesfreudigen Kameraden ein aus 8 Sängern bestehendes Doppelquartett, dessen Leitung ich übernahm und das viel zur kameradschaftlichen Geselligkeit, besonders an Vereinstagen und Veranstaltungen und bei Aufmärschen, beigetragen hat.

Am 19. März 1870 starb unerwartet, nach kurzer Krankheit, mein geliebter Vater, der sich nicht nur bei seinen Geschäftsfreunden, sondern auch in der gesamten Gemeinde, deren langjähriger Vorstand er war, sowie bei den Behörden durch seinen lauteren und biederen Charakter der größten Achtung und Wertschätzung erfreut hatte.

Infolge seines raschen Ablebens hatte mein Vater kein Testament gemacht, deshalb zog sich die Erbregelung sehr in die Länge und wurde durch den plötzlich ausgebrochenen Krieg mit Frankreich, wozu auch ich eingezogen wurde, bis zum Friedensschluß von der Obervormundschaft zurückgestellt.

Ich selbst bekam vom Landwehrbataillon Annaberg Kriegsorder und wurde in mein Regiment in Dresden eingestellt. Nachdem dasselbe feldmäßig ausgerüstet war, wurde es per Bahn bis Mainz-Kastell befördert, von wo aus der Marsch nach Frankreich begann. Leider bekam ich nach den außerordentlich anstrengenden Märschen wunde Füße und außerdem noch die Ruhr, so daß ich marschunfähig wurde. Ich kam infolgedessen in Hospitalpflege zunächst nach Düsseldorf und von da nach Zittau, von wo mich mein Onkel, Hauptzollamtskontrolleur Leonhardt, Annaberg, zur Privatpflege nach Sehma abholte. Nach erfolgter Gesundung wurde ich als felddienstunfähig dem Ersatzbataillon Dresden überwiesen. Der von einem sehr strengen Winter begleitete langweilige Garnisonsdienst brachte mir infolge eine angenehme Abwechslung, als ich die Führung eines Proviantzuges nach Soissons übernehmen mußte, woselbst ich beim dortigen Bürgermeister einquartiert wurde. Sehr zu statten kam mir hierbei das aus meiner Realschulzeit behaltene französisch, so daß ich mich wenigstens notdürftig mit der Familie, die außer dem Bürgermeister nur noch aus Frau und Tochter bestand (der Sohn war als Mobilgardist im Felde) unterhalten konnte. Man hielt mich zunächst für einen Lehrer (Maitre) und ich genoß sogar den Vorzug an der Familientafel mit zu speisen, während meine Kameraden in einem Nebenzimmer ihre Mahlzeiten einnehmen mußten. Auf der Rückfahrt, die über Reims und Straßburg von der Etappe vorgeschrieben war, haben wir uns in Reims die Kathedrale und in Straßburg das Münster besehen. Im Februar wurde ich noch einem Kommando auf der Festung Königstein zugeteilt und Ende März in die Heimat entlassen.

Nunmehr wurde auch die Regulierung des Nachlasses meines Vaters von Seiten der Obervormundschaft endgültig angeordnet und ich übernahm, dem Wunsch meines heimgegangenen Vaters entsprechend am 1. Juli 1871 das väterliche Grundstück für den Betrag meines Erbteils in Höhe von Reichstaler 3800,-- im Einverständnis des für meinen noch unmündigen Bruders Emil eingesetzten Vormundes, Gemeindevorstand Meyer.

Durch den Krieg war jedoch das Geschäft vollständig zum Stillstand gekommen und ich hatte vorerst, da die Erbregelung sich immer noch lange hinzog, durchaus keine Neigung dasselbe zu übernehmen.

Besonderes Interesse hatte in der Zwischenzeit der Eisenbahndienst in mir erregt und nach gehabter Rücksprache mit meinem früheren Realschulfreund Böck, der bei der Eisenbahn in Erdmannsdorf als Diätist angestellt war, machte ich ein dahingehendes Gesuch an die Königliche Generaldirektion der Sächsischen Staatseisenbahn.

Da ich längere Zeit ohne Nachricht hierauf geblieben war, so machte ich meinem Freund Böck, der inzwischen nach Bodenbach versetzt worden war, Mitteilung davon, worauf mir derselbe zu meiner Beruhigung wörtlich schrieb: "Wollte Dich die Direktion unberücksichtigt lassen, würdest Du Dein Gesuch mit Allem zurück erhalten haben, ist dies jedoch nicht der Fall gewesen, so kannst Du ganz sicher darauf rechnen, daß Du vorgemerkt bist und bei passender Vakanz eingeschoben wirst".

                                                 Grünbach a.d. Elbe, 20. Juli 1871 Teuerster Freund Küttner !

Zurückgekehrt von Dresden, wohin ich auf 14 Tage kommandiert gewesen, kommt mir Dein liebes Schreiben v. 10. ds.Mnts. zu Händen und verfehle nicht, Dir in dessen Entgegnung hierdurch freundlich mitzutheilen, daß, bevor man mir auf eine Anstellung hoffen kann, man mindestens fünf Jahre als Diätist gearbeitet haben muß.
Nun ist es aber auch nicht selten der Fall, daß man dann immer noch ein paar Jahre als Diätist auf der schönen großen Erde herumzuwandeln das Vergnügen haben muß. Die Diäten für solche von über 21 Jahre alt betragen pro anno 190 - 290 Reichstaler und darüber. Die erste Anstellung als Beamter ist "Stationsassistent", mit welcher Stellung ein Gehalt von 400 Reichstaler pro anno verbunden ist. Es ist nicht etwa so glänzend, wie Du Dir vielleicht vorgestellt hast, nun darf ich andernseits, um in meiner Auskunft versch. Ansicht Dir gegenüber vollständig gerecht zu werden, aber auch nicht unerwähnt lassen, daß gerade uns Eisenbahnern das größte Feld offen steht; man kann eben in diesem Fache zu sehr schönen, angenehmen Stellungen kommen. Dein Gesuch würdest Du unter Beifügung Deiner Realschulzensuren und des Zeugnisses an die "Königliche General Direktion der Sächsischen Staatseisenbahnen zu Dresden" zu richten haben und dürfte es mir von Vorteil sein, wenn Du einen selbst angefertigten Lebenslauf beigeben würdest, wenigstens habe ichs so getan. Stehen Dir noch mehr Zeugnisse zu Gebote, so behalte auch die nicht zurück. Einer weiteren Empfehlung bedarf es keineswegs, denn ich bin nur lediglich auf mein Gesuch mit beigefügt gewesenen Zeugnissen hier engagiert worden. Übrigens ist es auch zu empfehlen, wenn Du ein Gesundheitsattest, von einem Bezirksarzt in der nächsten Nähe ausgestellt, beigibst.

Ich bin überzeugt, daß man Dich rücksichtlich Deiner Vorbildung annehmen wird, da auf geschulte Leute gesehen wird und jetzt zumal viele junge Leute gebraucht werden.

Von dem Tage, an welchen Du ein Gesuch an die Direktion abgesandt haben wirst, rechnest Du fünf Tage hinzu, das macht nach meiner Rechnung 6; müßtest Du, wollte Dich die Direktion unberücksichtigt lassen, Dein Gesuch mit allem zurück erhalten haben; ist dies jedoch bis dahin nicht der Fall gewesen, so kannst Du ganz sicher darauf rechnen, daß Du vorgemerkt bist und bei passender Vakanz eingeschoben wirst.

Es grüßt Dich der angenehmen Hoffnung recht bald Dein College zu werden in alter treuer Freundschaft

                                                                 Dein Freund Ernst Böck

Ich darf es nunmehr wohl als eine glückliche Fügung meines Schicksals betrachten, daß mein Anstellungsgesuch bei der Eisenbahn unbeantwortet geblieben ist. Ich entschloß mich nunmehr das mir von meinem verstorbenen Vater zugedachte Geschäft doch noch zu übernehmen.

Es war nun mein Bestreben, dasselbe wieder lebensfähig zu machen, wobei mich meine am 14. Oktober 1872 heimgeführte, überaus geschickte und tatkräftige Frau Anna, geb. Döhnel, einzige Tochter des Mühlen- und Bäckereibesitzers Moritz Döhnel, Sehma, neben der Besorgung ihrer Hauswirtschaft unterstützte. Rasch hatte sie besonders das zeitraubende Aufmachen und Verpacken der Klöppelzwirne sich zu eigen gemacht, so daß meine dadurch frei gewordene Zeit mehr dem Besuch der sich vermehrenden Kundschaft widmen konnte.

Das Hauptgeschäft, welches bisher in der Fabrikation leinerner Klöppelzwirne bestand, erweiterte ich alsdann durch Hinzunahme des Handels mit Rohmaterialien für die in Annaberg-Buchholz heimische Posamentenfabrikation, worin bereits mein Vater in baumwollenen Garnen und Zwirnen schon kleine Geschäfte gemacht hatte. Ich nahm diesen Handel in größerem Umfang auf und erweiterte denselben noch durch Hinzunahme von englischen Wollgarnen, sowie Mailänder- und Chinesischen Seiden. Um noch mehr geschäftliche Erfahrung zu sammeln, besuchte ich im Jahre 1873 die Wiener Weltausstellung und aus Liebe zum Gesang das deutsche Sängerfest in München im Jahre 1874.

Am 10. Juli 1873 schenkte uns Gott einen Knaben, der Max Richard getauft wurde, jedoch kränklich war und nach kurzem Dasein wieder starb.

Unser 2. Kind Anna Frieda kam am 12. April 1874 zur Welt. In den ersten Jahren frisch und gesund, erkrankte sie in ihrem 5. Jahre an einer schweren Gehirnhautentzündung, an deren Folgen sie viele Jahre zu leiden hatte. Vom 6. - 14. Jahre hat sie die Sehmaer Dorfschule besucht und mit 15 Jahren haben wir sie zu ihrer weiteren Ausbildung nach Dresden in das bekannte Pensionat Rischbieter gebracht.

Nach vierjährigem Aufenthalt daselbst kehrte sie in das elterliche Haus zurück. Im Jahre 1898 hat sie sich mit dem Hilfsgeistlichen Gottlieb Altmann verlobt und am 12. März 1900 mit demselben als Pfarrer in Rhänitz bei Dresden verheiratet. Leider starb derselbe nach kaum 5-jähriger glücklicher Ehe am 21. Dezember 1904 an einem schweren Herzleiden.

Als 3tes Kind wurde am 25. November 1875 Fritz Richard geboren. Bis zum 11. Jahr besuchte derselbe die Sehmaer Dorfschule und hierauf noch 1 Jahr die Annaberger Realschule. Alsdann gab ich denselben bis zu seiner Konfirmation in die mir empfohlene Pension des Herrn Schuldirektor Kunath in Dresden. Da Fritz viel Interesse für praktische Arbeit, Schlosserei und Mechanik zeigte, so ließ ich denselben zunächst bei Schlossermeister Krieg in Buchholz die Schlosserei erlernen. Nach beendeter Lehrzeit besuchte er die Wirkmeisterschule in Chemnitz und nach Abgang von derselben nahm er Stellung in der elektrischen Fabrik von Nostitz und Kinzel, sowie bei Max Kohl Chemnitz, um auch dieses aussichtsreiche Fach kennen zu lernen. Zur weiteren Ausbildung ging er 1898 zur Allgemeinen Elektrizitäts Gesellschaft, Leipzig. Als mir im Jahre 1900 von befreundeter Seite eine in Kunitz bei Jena a. Saale liegende verkäufliche größere Holzschleiferei empfohlen wurde, kaufte ich dieselbe für meinen Fritz, die er am 1. Oktober 1900 übernahm. Wenn die Holzschleifereien auch nicht mehr wie früher große Gewinne abwarfen, so waren solche doch nicht den Konjunkturschwankungen unterworfen, wie so viele andere Branchen, und mehr als eine ruhige, sichere Kapitalanlage zu betrachten.

Da indessen im Laufe der Zeit dieses Gewerbe den erhofften Ertrag nicht mehr brachte, so verkaufte er seine Holzschleiferei 1910 an die weltbekannte Firma Carl Zeiss Jena, die sie zu einem Elektrizitätswerk umbaute, dessen Leitung mein Sohn Fritz übernahm. Am 23. Juli 1904 verheiratete er sich mit Elsa Schede, der einzigen Tochter des Bürgermeisters Schede in Zwätzen bei Jena. Dieser Ehe sind 2 Töchter entsprossen Anna Pauline Magdalena, geboren am 2. Juni 1905 und Elisabeth Ursula Susanne, geboren am 11. Februar 1910.

Am 15. März 1877 schenkte uns Gott als viertes Kind einen Knaben, der den Namen Max Richard erhielt. Er hat ebenfalls bis zu seinem 11. Jahr die Sehmaer Dorfschule besucht und alsdann in Dresden die gleiche Schule und Pension seiner Brüder. Da Max infolge seines bescheidenen und zurückhaltenden Wesens sich eher zu einem Beamten als zu einem Geschäftsmann eignete, so ließ ich ihn zunächst nach seiner Ostern 1892 erfolgten Konfirmation die Postschule in Langebrück besuchen und alsdann nach Erlangung des einjährig freiwilligen Zeugnisses die Realschule in Großenhain. Nachdem er dieses Ziel erreicht hatte, zerschlug sich der Plan ihn der Beamtenlaufbahn zuzuführen. Er wurde Kaufmann. Ostern 1896 trat er seine Lehrzeit in den Strumpf- und Handschuhgeschäft von Albert Vieweg in Chemnitz an. Nach beendeter Lehrzeit ging er zur weiteren Ausbildung 1 Jahr nach Paris und bekleidete nach erfolgter Rückkehr eine Stellung in der Reformbettenfabrik Steiner u. Sohn in Frankenberg. Kurz darauf trat er mit seinem Bruder Hugo in das väterliche Geschäft als Prokurist ein. Im Jahre 1906, als ich das Geschäft meinem Sohn Hugo als alleinigen Inhaber übergab, hatte ich die Absicht, meinem Sohn Max an einem Unternehmen in der erlernten Branche in der Chemnitzer Gegend teilnehmen zu lassen. Es kam jedoch diese Absicht nicht zur Ausführung und so blieb Max weiter im Geschäft tätig. Im Jahre 1903 ließ ich demselben eine Villa an der Karlsbader Straße bauen, in die er am 17.Mai 1905 seine Braut Johanna Heß, die 4. Tochter des verstorbenen Gutsbesitzers Friedrich Heß heimführte. Seine beiden Söhne: Friedrich Richard, geboren am 1. Januar 1907 und Karl-Heinz Max, geboren am 10. November 1909 sind die einzigen zukünftigen Namensträger meiner Familie.

Unserem 5. Kind, den am 17. März 1879 geborenen Sohn, gaben wir den Namen Hugo Richard. Wie seine Brüder besuchte derselbe ebenfalls bis zum 11. Jahre die Sehmaer Dorfschule und von da bis zu seiner Konfirmation die gleiche Pension seiner Brüder in Dresden.

Seine Lehrzeit als Kaufmann absolvierte er in Plauen i.V. bei der Firma Rich. Mauersberger u. Co. und ging von da, um sich weiter auszubilden, 1 Jahr nach London. Von England zurückgekehrt war er als Prokurist in meinem Geschäft bis zum 30. Juni 1906 tätig, das ich ihm zu diesem Zeitpunkt übergab. Seine am 28. Juni 1910 heimgeführte Frau Toni Schuller ist die 2te Tochter des verstorbenen Baumeisters Louis Schuller, Plauen. Seine beiden Kinder sind die am 25. April 1911 geborene Marga und am 9. März 1913 geborene Ursula.

Als 6. Kind schenkte uns Gott am 3. April 1881 Anna Elisabeth. Dieselbe besuchte ebenfalls, wie ihre Geschwister, die Sehmaer Dorfschule bis zu ihrer Konfirmation und 1 Jahr später zur weiteren Ausbildung die uns empfohlene Pension "Herzog" in Dresden. Am 9. Mai 1903 verheiratete sich dieselbe mit dem Kaufmann und Fabrikbesitzer Karl Mittag in Buchholz. Nach kurzer überaus glücklichen Ehe starb dieselbe am 23. September 1904 an der Entbindung ihres 1. Kindes Karl August. Der Verlust dieser allgemein beliebten Tochter war für uns alle außerordentlich schmerzlich, war sie doch in Anbetracht ihres edlen, vornehmen Charakter und Wesens der Sonnenschein unserer Familie.

Unser jüngstes Kind Johanna Magdalena ist am 3. Juni 1884 geboren, besuchte gleich ihren Schwestern bis zu ihrer Konfirmation die Sehmaer Dorfschule. Mit 15 Jahren gaben wir dieselbe in eine von befreundeter Seite warm empfohlene Pension der Frau v. Lengerke, Kassel.
Am 10.4.1909 hat sie sich mit dem Dr. med. Franz Holey, Gröba, verlobt und am 4. Februar 1911 mit denselben verheiratet.

Nachdem ich diesen kurzen Überblick über meine Familie gegeben habe, kehre ich zu der Schilderung meiner geschäftlichen Tätigkeit und meiner persönlichen Erlebnisse zurück.

Für Naturseiden, die ich bisher nur von Leipziger und Berliner Großhändlern gekauft hatte, suchte ich direkten Bezug zu erreichen. Hierbei unterstützte mich mein z.Z. bei seinen Eltern in Sehma zur Erholung sich befindender Jugendfreund Feodor Bretschneider, der längere Zeit in Venedig in Stellung gewesen war und perfekt italienisch sprechen und korrespondieren konnte. Es lag mir nun aber auch sehr daran, persönliche Bekanntschaft mit meinen Seidenspinnern zu machen und ich ergriff hierzu gern, die mir von meinem Geschäftsfreund Laux, Annaberg, der seit Jahren größere Geschäfte in Posamenten nach Italien machte, gebotene Gelegenheit. Als derselbe im April 1885 wiederum seine italienische Kundschaft besuchte, schloß ich mich demselben an. Laux, der nebenbei bemerkt, ein angenehmer, weltgewandter Gesellschafter war und die italienische als auch die französische Sprache vollständig beherrschte, begleitete mich zu meinen alten Geschäftsfreunden und war mir behilflich auch noch neue zu gewinnen. Es waren angenehme, herrliche Wochen, die ich mit ihm damals in Italien verlebt habe. Laux, der schon wiederholt dort gewesen war und Land und Leute gut kannte, hat mich oft vor Gaunereien bewahrt, durch die viele Italiener so gern die Fremden übervorteilen.

Auf der Rückreise haben wir noch einen Abstecher nach Venedig gemacht, das durch seine auf dem adriatischen Meer hinausgebaute Lage und Wasserstraßen außerordentlich interessant und sehenswert ist. Wir wohnten daselbst in dem an dem Canalo Grande gelegenen deutschen Hotel "Grünwald-Bauer" und lernten daselbst auch den deutschen Konsul Fischer-Rochsteiner kennen, mit dem wir einen fröhlichen Abend verlebt haben. Bei dieser Gelegenheit hat derselbe uns für billiges Geld ein Faß Rotwein aus seinen in Friul gelegenen Weinbergen überlassen, der so außerordentlich stark war, daß man zu einem Liter Wein 3 Liter Wasser zusetzen mußte, um denselben trinkbar zu machen.

In Venedig hat mich die dort heimische Glasindustrie sehr interessiert und zwar insofern als außer Luxusgegenständen auch Perlen fabriziert werden wie solche in der erzgebirgischen Posamentenindustrie viel Verwendung finden.

Über Como, wo wir noch einige Seidenspinner aufgesucht haben, sind wir dann per Schiff nach den am See herrlich gelegenen Böllaggis gefahren, wo wir uns wieder 1 Tag aufgehalten und daselbst zugleich als Reiseandenken herrliche seidene Decken, das Stück zu dem außergewöhnlich billigen Preis von 3 Lire eingekauft haben. Über Wien ging es dann in die Heimat zurück. Nach 4-wöchentlicher Abwesenheit nach Hause zurückgekehrt, kann ich wohl sagen, daß ich abgesehen von den interessanten Eindrücken, diese Reise besonders in geschäftlicher Beziehung mir von großem Vorteil gewesen ist.

Nebenher habe ich wiederholt meine Zwirnerei vergrößert, da jedoch in Folge dessen die Betriebskraft mit dem bisherigen hölzernen, mittelschlächtigen Wasserrad nicht mehr ausreichte, entschloß ich mich den Betrieb in ein oberschlächtiges eisernes Wasserrad umzustellen und zur besseren Ausnutzung der Wasserkraft den Betriebsgraben zu erhöhen. Die Ausführung dieser Umstellung übertrug ich der in dieser Spezialität bekannten Firma Gustav Hartmann, Lößnitz, und bereits 1895 kam diese Anlage zu meiner größten Zufriedenheit in Betrieb. Durch diese Kraftvermehrung war es mir nun auch möglich, elektrisches Licht zu erzeugen, da aber die Wasserkraft zur Aufspeicherung während des Tagesbetriebes nicht ausreichte, so wurden die zu diesem Zweck aufgestellten Akkumulatoren nicht überspeist.

Eine abermalige Erweiterung des Geschäftes machte bald einen größeren Bau und zugleich eine Verstärkung der Betriebskraft nötig, ich ging daher zum Dampfbetrieb über und bestellte bei der in hiesiger Gegend gut eingeführten Firma Hermann Ulbrich, Chemnitz, eine 120pferdige Dampfmaschine, die zunächst für meine Zwirnerei ausreichte.

Als man zu Beginn der 1890er Jahre in der Posamentenindustrie anfing Kunstseide zu verarbeiten, nahm ich solche sofort als Handelsartikel mit auf und suchte mit der Fabrik hierfür, die ich nach mehrfachen Bemühen in der Schweiz entdeckte, in Verbindung zu kommen. Leider war jedoch dieses Produkt, daß noch in seinen Anfängen stand, infolge seiner Haltlosigkeit und leichten Entzündbarkeit für Posamentenzwecke nicht gut verwendbar und es wurden deshalb Fabrikanten die Kunstseide verarbeiteten von den Feuerversicherungsgesellschaften nicht aufgenommen. Nachdem diesem Übelstand jedoch abgeholfen worden war und sich der Faden haltbarer und elastischer zeigte, wurde die Verwendung der Kunstseide allgemeiner und ich schloß mit der Fabrik, die ihren Betrieb infolge günstigerer Wasserverhältnisse von der Schweiz nach Belgien verlegt hatte, einen Vertrag für den Alleinverkauf dieser Seide in Sachsen und Weipert in Böhmen ab.

Nach weiteren Absatzgebieten ausschauend, veranlaßte ich meinen Sohn Hugo, der in Plauen i.V. als Kaufmann gelernt hatte, wo die damals in hoher Blüte stehende Strickereiindustrie nur Naturseide verwendete, mit von uns hergestellten Proben aus Kunstseide dorthin zu gehen und für deren Verwendung Fabrikanten zu suchen. Im Anfang solcher Verwendungsversuche stieß man auf große Schwierigkeiten, da insbesondere das Beizen der fertigen Stücke nicht gelingen wollte. Nachdem aber dieser Übelstand beseitigt worden war, eröffnete sich in Plauen ein großes Absatzgebiet für Kunstseide und ich vergrößerte abermals meine Zwirnerei.

Ich kann wohl sagen, daß sich damit ein wichtiger Abschnitt meiner bisherigen Tätigkeit vollzogen hatte. Meine Aufmerksamkeit war von da mehr der besser lohnenden Kunstseide gewidmet und die Fabrikation, sowie der Handel mit Klöppelzwirnen und Posamentenmaterialien trat mehr und mehr in den Hintergrund.

Durch die anstrengende Tätigkeit des immer größer gewordenen Geschäfts hatten indessen meine Nerven sehr gelitten und zu einem Zustand schweren neurasthenischen Leidens geführt, das mich derart quälte, daß ich die für das Geschäftsleben so nötige Tatkraft und Freudigkeit vollständig verlor. Ein ausgesprochenes Ruhebedürfnis machte sich geltend und so entschloß ich mich das Geschäft jüngeren Schultern anzuvertrauen und auch von einer etwaigen Beteiligung am Geschäft abzusehen, da diese meinem Nervenleiden keinesfalls die nötigen Ruhe und Erholung gebracht hätte.

Von meinen beiden im Geschäft als Prokuristen tätigen Söhnen zeigte Max keine Neigung dasselbe allein zu übernehmen, wohl aber Hugo. Da ich selbst kein Freund von Kompagniegeschäften war, so sprach ich zunächst hierüber mit meinem Chemnitzer Rechtsfreund Justitzrat v. Stern, den ich mit dem eventuell abzuschließenden Vertrag beauftragen wollte. Er riet mir ebenfalls ab, das Geschäft meinen Söhnen gemeinsam zu überlassen. Aus meiner langjährigen Tätigkeit, sagte er, weiß ich, das Brüder geschäftlich sich selten lange vertragen. Infolge entstehender Differenzen kommt es nicht selten zu Zank und Streit und dadurch das väterliche Geschäft oft in vollständig fremde Hände und das ist doch wohl nicht ihr Wille. Auch von einer längeren Beteiligung am Geschäft seitens Max, an die ich gedacht hatte, riet er ab. Er schlug mir eine 5-jährige Beteiligung desselben vor, vertragen sich die Brüder, meinte er, nun so können dieselben ja den Vertrag verlängern; andernfalls können sie nach dieser kurzen Zeit sich trennen und in der Zwischenzeit können sie für den austretenden Sohn ein anderes passende Geschäft suchen.

Dementsprechend überließ ich am 1. Juli 1905 meinem Sohn Hugo allein mein Geschäft nebst den dazu gehörigen Gebäuden und Maschinen, sowie Außenständen für M 700.000,-- unter Vorbehalt meines Wohnhauses nebst Garten, der Pferde, Kutschgeschirren und Ausrüstungsgegenständen, für mich und meine Frau auf Lebenszeit.

Um diese Zeit gab ich auch alle von mir in meiner Heimat bekleideten Ehrenämter auf, war ich doch als Mitglied des Gemeinderates 14 Jahre, des Schulvorstandes 15 Jahre und des Kirchenvorstandes 23 Jahre lang tätig gewesen.

Das gegen eine bescheidene Vergütung 30 Jahre lang verwaltete Amt eines Königlichen Schlachtsteuer Einnehmers hatte ich schon vorher abgegeben. Befreit von den täglichen Sorgen und Aufregungen des Geschäftsbetriebes hoffte ich nunmehr den Rest meines Lebens mit den Meinen in beschaulicher Zufriedenheit genießen zu können. Ende März 1907 siedelte ich mit meiner Frau und jüngsten Tochter Magdalena nach Dresden über, wo ich mir die meinen Verhältnissen entsprechende Villa in der Klarastr. Nr. 2 gekauft hatte, in die ich auch meine in Dresden als Witwe des Pastors Altmann wohnende älteste Tochter Frieda mit aufnahm.

Die Stadt Dresden an und für sich, mit ihren Kunstschätzen und Sehenswürdigkeiten, die herrliche Umgebung und die schnell zu erreichende sächsische Schweiz, boten mir und meiner Frau genügend Gelegenheit für Unterhaltung und Zerstreuung. Außerdem lebten Verwandte und Freunde daselbst, so daß ich auch in gesellschaftlicher Beziehung guten Anschluß fand.

Ab und zu habe ich mich auch noch in den ersten Jahren meines Privatlebens geschäftlich betätigt, so bin ich z.B. wiederholt aus geschäftlichen Interessen in Barmen, Elberfeld, Brüssel, Tubige gewesen. Auf diesen Reisen haben mich bisweilen auch meine Frau und Töchter begleitet. Auch die berühmten Seebäder Ostende und Blankenberge haben wir gemeinschaftlich aufgesucht.

Da schon zu meiner Zeit der Gedanke, Kunstseide selbst herzustellen, wiederholt erörtert worden war, so traf es sich glücklich, daß ich, als ich im Februar 1908 wiederum in Brüssel war, auch die Kunstseidenfabrik in Muranvart mit aufsuchte, dort den chemischen Leiter derselben Dr. Suchanek kennen lernte, den mein Sohn später zur Einrichtung der Kunstseidenfabrikation in Pirna engagierte.

Zur Erholung meiner immer noch kranken Nerven, sowie eines mich schon seit längerer Zeit plagenden Bronchialkatarrhs haben ich mit meiner Frau, die öfter an schweren Gallensteinkoliken zu leiden hatte, fast jedes Jahr eine Badekur gebraucht. Abwechselnd haben wir uns aber auch eine Vergnügungsreise bzw. Erholungsreise gegönnt und ich gedenke gern noch einer herrlichen Reise die wir in Gesellschaft meines Schulfreundes Stadtrat Drechsler und dessen Schwiegersohnes Seminardirektor Beck in Zschopau mit deren Frauen im Jahre 1905 nach Italien gemacht haben.

In Neapel haben wir uns längere Zeit aufgehalten, um auch die Umgegend kennen zu lernen. Wir haben von da aus den Vesuv in Augenschein genommen, dessen Tätigkeit damals aus kleinen Rauchsäulen zu erkennen war. Wir hatten insofern Glück, als auch das Wetter günstig war, denn bereits am nächsten Tage war der Vesuv beschneit.

Ferner haben wir Pompegi und Herculanum mit seinen interessanten Ausgrabungen, die Insel Capri mit ihrer blauen Grotte und so verschiedene andere Sehenswürdigkeiten aufgesucht.

Das nächste Ziel unserer Reise war Rom. Leider aber streikten gerade zur Zeit unserer Abreise von Neapel die dortigen Eisenbahner und der einzige Zug, der nach Rom ging, wurde mit doppelter Fahrzeit vom Militär gefahren. Nach Rom kamen wir gerade in der Karwoche und waren sehr erstaunt, daß von dem Ernst und der Feierlichkeit dieser Zeit, daselbst nichts zu bemerken war. Selbst in der Peterskirche herrschte ein Lärm, wie man ihn sonst nur auf Jahrmärkten zu hören gewöhnt ist. Von der Kuppel aus, die wir bestiegen, bot sich ein wundervoller Blick auf die ewige Stadt und ihre Umgebung. Eine Audienz beim Papst, die geplant war, kam leider wegen Unpäßlichkeit "Seiner Heiligkeit" nicht zur Ausführung, dagegen wurden uns fast sämtliche Räumlichkeiten des Vatikans gezeigt unter Führung des Hauptmanns der Schweizer Garde, die zur Hofhaltung des Papstes gehört.

Auf der Heimreise haben wir uns noch einige Tage in dem schönen Florenz aufgehalten, dann in Pisa den berühmten schiefen Turm gesehen und schließlich noch einige Tage in Mailand geweilt. Das Sehenswürdigste dieser Stadt sind die Kathedrale, die Scala (Theater) und der Friedhof. Über Laibach, Graz gelangten wir mit der durch ihre zahlreichen Kunstbauten interessanten Semmerringbahn nach Wien, wo wir der uns befreundeten Familie Apotheker Husak einen Besuch abstatteten und fuhren dann von der herrlichen Donauresidenz aus ohne Aufenthalt wieder heim.

Soviel Schönes und Herrliches wir nun auch auf dieser Reise gesehen haben, so waren wir doch nach Abschluß derselben froh, wieder im lieben Vaterland zu sein und mit seinen geordneten Verhältnissen, seiner Sauberkeit, den herrlichen Fluren und Wäldern und seiner impulsiven Tätigkeit auf allen Gebieten, im Gegensatz zu den kahlen grauen Bergen Italiens, seiner einseitigen Vegetation und seinen zum Teil recht schmutzigen, nicht immer ehrlichen niederen Volksschichten.

Als im Jahre 1910 die Oberammergauer Festspiele wieder zur Aufführung kamen, haben wir uns diese in Verbindung mit einer Erholungsreise ebenfalls angesehen. Leider erkrankte unsere Tochter Magdalena in Murnau, kurz vor Oberammergau plötzlich, so daß wir den dortigen Arzt rufen mußten, der eine schwere Gallensteinkolik feststellte. Nachdem dieser schmerzhafte Anfall am nächsten Tag vorüber war, konnten wir noch rechtzeitig dem Festspiel beiwohnen. Die Vorstellung dauerte von Vormittag 9 bis 6 Uhr abends, mit einer Unterbrechung von 2 Stunden. So interessant die Vorstellung an und für sich auch war, so wirkte sie andererseits doch sehr ermüdend und abspannend.

Von da sind wir über Patenkirchen, Garmisch, Leermoos, Grenzstation zwischen Bayer und Tirol, Brennbichel berührend, wo König Friedrich August II. im Jahre 1854 verunglückte, nach Innsbruck gefahren. Nachdem wir am nächsten Tag Innsbruck in Augeschein genommen, das einen schon mehr südländischen Charakter hat, fuhren wir über Jonbach nach dem Achensee, wo wir in einem klosterähnlichen, am See gelegenen Hotel übernachteten, dem die elektrische Beleuchtung durch ein Gewitter zerstört worden war und wir uns infolgedessen mit auf Weinflaschen aufgesteckten Inseltlichtern behelfen mußte. Von hier aus haben wir Bad Krent, sowie Tegernsee berührend, Bad Tölz einen Besuch abgestattet und sind dann über München in die Heimat zurückgekehrt.

Am 25. Februar 1912 ernannte mich der Sehmaer Militärverein zu seinem Ehrenmitglied unter Übereichung eines Diplomes aus Dankbarkeit für ihn geleistete Dienste. Im Mai 1912 haben ich mit meiner Frau eine Erholungsreise nach dem herrlichen Gardasee unternommen, wo wir in Gardone die Bekanntschaft einer daselbst ebenfalls zur Erholung weilende Familie Lorenz aus Plauen i.V. machten, mit der wir während unseres 4-wöchentlichen Aufenthaltes einen recht angenehmen geselligen Verkehr gepflegt haben. Infolge Herzbeschwerden sind wir auf Empfehlung unseres Hausarztes im Mai 1913 nach Nauheim gegangen, jedoch bekam die Kur meiner Frau daselbst nicht gut. Nach 14-tägigem Aufenthalt bekam dieselbe einen furchtbaren schmerzhaften Gallensteinanfall, so daß ich meine Tochter Frieda zur Pflege nach dort kommen lassen mußte.

Im Jahre 1914 haben wir Anfang Mai wiederum Bad Kissingen aufgesucht, da dessen Heilquellen meiner Frau bisher gut bekommen waren. Aus gleichem Grunde nahmen wir auch 1915 wieder dort Aufenthalt, diesmal jedoch ohne dem erhofften Erfolg. Da sich auch bei meinen Töchtern bereits bedenkliche Gallensteinbeschwerden zeigten, so wurde Anfang Juli eine gemeinsame Kur in Karlsbad beschlossen, an der ich jedoch nicht teilnahm. Nach 3-wöchentlichen Kurgebrauch bekam dort meine Frau einen derart schmerzhaften Gallensteinanfall, daß meine Töchter mich telefonisch nach Karlsbad riefen. Da ein weiterer Aufenthalt daselbst zwecklos war, sind wir mit unserer kranken Mutter unter äußerst beschwerlichen Umständen nach Haus gereist, um in Dresden bei bekannten Spezialisten, vielleicht durch einen operativen Eingriff Gesundung zu ermöglichen. Leider waren aber alle Bemühungen in dieser Hinsicht umsonst.

Am 5. Oktober 1915 erlöste sie der Tod von ihrem schmerzhaften Leiden im Alter von 61 Jahren und am 9. Oktober haben wir ihre irdische Hülle in unserer Familiengruft in Sehma beigesetzt. Mit ihr ist nach 43-jähriger überaus glücklichen Ehe mein Bestes dahingegangen. In Folge ihres leutseligen Wesens, sowie ihrer im Stillen geübten Wohltätigkeit, erfreute sie sich allgemeiner Beliebtheit. 42 Jahre hat sie dem Frauenverein angehört, dessen Vicevorsteherin sie 20 Jahre war. In Anerkennung ihrer Verdienste in demselben wurde sie 1912 zum Ehrenmitglied ernannt und ihr zugleich die braune Carola Medaille verliehen.

Meine Tochter Frieda, mit der ich seit dieser Zeit zusammen lebe, sucht wohl mit aller Liebe und Hingebung meinen Lebensabend mir erträglich und angenehm zu machen, indessen bei allen guten Willen kann sie die heimgegangene Gattin natürlich nicht ersetzen.

Da infolge des am 2. August 1914 ausgebrochenen Weltkrieges und der dadurch eingetretenen schlechten Ernährung meine Gesundheit weiter gelitten hatte, so suchte ich in den Jahren 1915/16 mit meinen beiden Töchtern wiederum Kissingen auf, ohne jedoch den erhofften Erfolg zu erreichen. Auf ärztliches Anraten habe ich alsdann wegen des immer heftiger auftretenden Bronchialkatarrhs 1917 eine Kur in Davos (Schweiz) gebraucht. Im September 1917 bin ich deshalb zunächst mit meiner Tochter Magdalena nach St. Blasien i. Schwarzwald, welches mir als Übergangsstation empfohlen worden war, gereist und am 18. November von da in Begleitung meiner Tochter Frieda, welche Magdalena ablöste, nach Davos weitergefahren, wo wir im Hotel Exselior volle Pension pro Person und Tag zu 8 Francs bei guter Verpflegung erhielten. Die günstige Höhenlage des Hotels brachte mir wesentliche Besserung und Stärkung. Zur Nachkur habe ich dann noch Mitte März 1918 die in der Südschweiz gelegene und einen schon mehr italienischen Charakter tragenden Luftkurorte Lucarno und Lugano aufgesucht und Ende Mai die Heimreise wieder mit der Gotthardbahn angetreten. In Fluclon, am Ausgang des Tunnels, haben wir die Reise unterbrochen, sind von da mit der Straßenbahn bis Altdorf gefahren, wo wir kurze Rast gehalten und bei dieser Gelegenheit das daselbst befindliche Denkmal von Wilhelm Tell in Augenschein genommen haben. Von Altdorf sind wir weiter bis Luzern gereist, wo wir 2 Tage geblieben und von da eine herrliche Rundfahrt per Dampfschiff auf dem Vierwaldstädter See gemacht haben.

Wenn nun auch diese Kur keine vollkommene Heilung meines Leidens gebracht hat, so hat sie doch "Gott sei Dank" entschieden zur Verlängerung meines Lebens wesentlich beigetragen, trotz der starken seelischen Depressionen, welche der verlorene Krieg und die Revolution vom 9. November 1918 mit ihren häßlichen Begleiterscheinungen und verhängnisvollen Folgen für unser Land und Leute auch auf mich ausübte.

In den Jahren 1918 und 1919 war ich mit meiner Tochter Frieda wiederholt zur Sommerfrische in Sehma.

1920 war es mir vergönnt, das 100-jährige Jubiläum unserer Firma "Fr. Küttner" zu erleben. Eine Jubiläumsschrift, auf die auch hier ich verweisen möchte, schildert den Werdegang des großen industriellen Unternehmens. 35 Jahre meines Lebens habe ich mit zu dessen glücklichen Entwicklung meine besten Kräfte gewidmet und mit berechtigtem Stolz blicke ich auf das von meinem Sohn Hugo weiter aufgebaute Werk. Er schuf die Kunstseidenfabrik in Pirna, erweiterte die ganze Anlage in Sehma sowie sie sich jetzt dem beschauenden Auge darbietet und errichtete eine wenn auch nur vorübergehend betriebene Seidenwicklerei in Neudorf. Gott schenke ihm Gesundheit und Kraft, daß er dem großzügigem Werke noch viele Jahre vorstehen kann.

Zum Schluß dieser Niederschrift richte ich an meine lieben Kinder und Kindeskinder noch die herzliche Bitte, auch nach meinem Tode das von mir gepflegte Familienleben in Friede und Eintracht weiterzuführen, sich in den Fällen der Not gegenseitig liebreich zu unterstützen und so das Andenken an Vater und Mutter am Besten in Ehren zu halten.

Dresden, Weihnachten 1924

                                                              Friedrich Richard Küttner


Quelle:
Meine Lebenserinnerungen,
Dresden, Weihnachten 1924,
Friedrich Richard Küttner

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